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Barbins Leben erzählt die Geschichte eines Menschen, der nicht in der Lage war, sich den normativen Zwängen der Gesellschaft unterzuordnen und letztendlich nur den Ausweg im Selbstmord sah. Diese tragischen Memoiren regen an, sich kritisch mit Geschlechterkonstrukten auseinanderzusetzen, die ein Individuum zwingen, nach einer bestimmten Kategorie zu leben.

Abstract

Barbins Leben erzählt die Geschichte eines Menschen, der nicht in der Lage war, sich den normativen Zwängen der Gesellschaft unterzuordnen und letztendlich nur den Ausweg im Selbstmord sah. Diese tragischen Memoiren regen an, sich kritisch mit Geschlechterkonstrukten auseinanderzusetzen, die ein Individuum zwingen, nach einer bestimmten Kategorie zu leben.

Sachanalyse

Intergeschlechtlichkeit

Die Erinnerungen des_der intergeschlechtlichen Barbin zeigen eindrucksvoll, dass Menschen in einer Gesellschaft bereits aufgrund ihres vermeintlichen Geschlechts Chancen erhalten oder verlieren können und dass die Annahme, dass es nur das männliche und das weibliche Geschlecht gibt, keineswegs selbstverständlich ist.

Der Begriff „Intergeschlechtlichkeit“ bezeichnet die „nicht eindeutige Möglichkeit der Zuordnung eines Menschen“ zum männlichen oder weiblichen 1 Geschlecht.2 Dies kann entweder aufgrund doppeldeutiger Sexualorgane bereits bei der Geburt der Fall sein oder im Laufe der Pubertät einsetzen, wenn die körperliche Entwicklung nicht zu dem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht passt.3

Umgang mit Intergeschlechtlichkeit im Frankreich des 19. Jahrhunderts

In der aktuellen Forschung4 wird davon ausgegangen, dass Intergeschlechtliche seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als Menschen angesehen wurden, deren Genitalien sich nicht vollständig entwickelt hätten. Aufgrund nicht eindeutig zuordenbarer männlicher oder weiblicher Geschlechtsmerkmale diagnostizierten ihnen Mediziner eine mangelhafte Reproduktionsfähigkeit, die im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts als Beweis ihrer physischen und psychischen Unterlegenheit angeführt wurde.

Als vermeintlich objektives Kriterium zur Definition von Geschlechterbildern, stand die sexuelle Reproduktion in jener Zeit ebenso für eine soziale Referenz, die rollenspezifische Erwartungen von Mann und Frau in sozialen Beziehungen re-naturalisiert.5 So sollte die Frau als Mutter zur Stabilität der Familie beitragen, indem sie sich um die Kinder und den Haushalt kümmerte. Dementsprechend hätten politische oder berufliche Tätigkeiten einen Widerspruch zum natürlichen Geschlechterbild von „Mutter sein“ dargestellt.6 Diese Aufgabenfelder oblagen allein dem Mann, der angesichts seiner natürlichen Eigenschaften von „Mann sein“ diesen besser entsprach. Manifestiert wurde diese Geschlechterbeziehung im Code civil von 1804, in dem die Bevormundung der Frau durch den Mann festgeschrieben wurde.7

An diesem Beispiel lässt sich erkennen, dass das bipolare Geschlechtersystem und dichotome Geschlechterbilder im 19. Jahrhundert zu einer normgebenden Kategorie mit weitreichenden Folgen für die Organisation des gesellschaftlichen Lebens avancierten. Intersexualität, die angesichts ihrer ambiguen Erscheinung von dieser vermeidlich Natur gegebenen Geschlechterordnung nicht erfasst wurde, birgt dabei die Chance, die Wirkmächtigkeiten dieser Geschlechterordnung aufzuzeigen. Die Memoiren des_der intergeschlechtlichen Barbin (1838-1868) stellen eine einzigartige Quellensammlung für die Forschung für Geschichte der Intergeschlechtlichkeit dar. Im Vergleich zu einer Mehrzahl der Schriften über Intergeschlechtliche aus dem 19. Jahrhundert, die gewöhnlich keine Schriften von Intergeschlechtichen selbst sind, berichtet Barbin eigenmächtig über seine_ihre Erfahrungen als intergeschlechtlicher Mensch im Frankreich der 1860er Jahre.8

Biographie der_des Adelaide Herculine Barbin

Adelaide Herculine Barbin wurde 1838 in der Nähe von La Rochelle geboren. Bei der Geburt kam keine Unsicherheit bezüglich der geschlechtlichen Identität des Kindes auf, welches ohne besondere Konsultationen als Mädchen betrachtet wurde. Der Vater starb früh und die Mutter wurde Erzieherin bei einer adligen Familie, weswegen Barbin in einem Nonnenkloster erzogen wurde. Mit der Pubertät setzten starke, körperliche Schmerzen ein und Barbin war bezüglich der eigenen Sexualität verunsichert, was mit ihren_seinen sexuellen Gefühlen für Frauen einherging.

Nach einer Ausbildung als Lehrerin arbeitete Barbin an einer Mädchenschule, verliebte sich dort in Sara, die Tochter des Leiters der Schule, und begann mit ihr eine sexuelle Beziehung. Obwohl immer darauf bedacht, den eigenen Körper —ungewöhnlich stark behaart, ohne ausgeprägte Brüste und Hüften — zu verbergen, sah sich Barbin nach anhaltenden genitalen Schmerzen dazu gezwungen, einen Arzt zu konsultieren. Nachdem dieser an Barbins Körper männliche Geschlechtsmerkmale feststellte, wendete sich Barbin an den Bischof von La Rochelle, der weitere medizinische Untersuchungen einleitete. Als Ergebnis dieser Untersuchungen stellte der betreffende Arzt fest, dass Barbin Hermaphrodit sei mit überwiegend männlichen Geschlechtsmerkmalen.

Im Juni 1860 wurden daraufhin Barbins Geschlecht und Vorname juristisch geändert und entsprechend korrigierende Einträge in Barbins Geburtsurkunde vorgenommen. Somit wurde Barbin mit 22 Jahren zum Mann erklärt, aus Adelaide wurde Abel. Barbin war daraufhin gezwungen, Sara und die Stellung als Lehrerin aufzugeben.

Nach einem Umzug nach Paris beging Barbin dort nach erfolgloser Arbeitssuche Selbstmord. Neben den autobiographischen Lebenserinnerungen, die Barbin hinterließ, ergänzen Zeitungsartikel, ärztliche Gutachten und offizielle Dokumente die persönlichen Schilderungen.
Entstehung und Rezeption der Memoiren der_des Barbin

Der Entstehungszeitraum und -ort der Lebenserinnerungen können nicht mit Sicherheit bestimmt werden, es scheint aber wahrscheinlich, dass sie nach Barbins Ankunft in Paris verfasst wurden. Der Arzt Auguste Ambroise Tardieu veröffentlichte nach Barbins Tod Ausschnitte aus den Lebenserinnerungen im Rahmen einer medizinischen Abhandlung zu Fragen geschlechtlicher Identität. Michel Foucault verwendete die Quellen für seine Überlegungen zur Wirkung von Machtstrukturen und Diskursen auf das einzelne Subjekt. Der Titel der Lebenserinnerungen Herculine Barbin, genannt Alexina B. Meine Erinnerungen verweist auf Barbins ursprünglichen Geburtsnamen Adelaide Herculine Barbin sowie auf Barbins Rufnamen Alexina. In den Erinnerungen wird das Mädchen Barbin allerdings Camille genannt. Dies könnte eine Änderung des Arztes Tardieu sein, der Camille als Pseudonym für die Veröffentlichung der Memoiren im Zuge seiner medizinischen Abhandlung wählte.

Foucault spekulierte, dass Barbin selbst das Pseudonym verwendet haben könnte und eine mögliche Publikation in Erwägung zog. Interessant hierbei ist, dass Camille sowohl als männlicher als auch als weiblicher Vorname verwendet werden kann. Nach der offiziellen Änderung des Geschlechts erhielt Barbin den männlichen Vornamen Abel.


Die besonderen Bedingungen im Kloster

Es kann vermutet werden, dass die Werte und (geschlechtlichen) Normen der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bei der Betrachtung der Erinnerungen Barbins weniger deutlich werden, da Barbin in einem Frauenkloster aufwuchs, in dem nicht nur homo- sondern auch heterosexuelle Verbindungen offiziell verboten waren. Die Frömmigkeit der Frauen stand im Vordergrund, weniger ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung und die Rollenverteilung in der Familie.9 Jedoch spiegelt die klösterliche Geschlechterhierarchie die gesellschaftliche Geschlechterhierarchie beispielsweise in Bezug auf Rollenverteilung (die höchsten Positionen der katholischen Kirche werden von Männern bekleidet) wider.10 Des Weiteren findet sich in den Memoiren neben dem kirchlichen auch der weltliche Diskurs zu Geschlecht wieder, beispielsweise im Zusammenhang mit Barbins Arztbesuchen.

  1. Es ist den Autoren und Autorinnen bewusst, dass, wenn Intergeschlechtliche im Vergleich mit Männern und Frauen definiert werden, auf die dichotomische Geschlechterordnung zurückgegriffen wird. Wir plädieren dafür, dies stets kritisch im Hinterkopf zu behalten. Zu weiteren Informationen s. www.intersexualite.de
  2. Frewer, Andreas / Säfken, Christian: Identität, Intersexualität, Transsexualität: Medizinhistorische und ethisch-rechtliche Aspekte der Geschlechtsumwandlung. In: Stahnisch, Frank / Steger, Florian (Hg.): Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen. Geschichte und Philosophie der Medizin. Band 1. Wiesbaden 2005, S. 137-156. S. 141.
  3. Klöppel, Ulrike: XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. GenderCodes. Band 12. Bielefeld 2010, S. 101.
  4. Zum aktuellen Stand der Forschung über Intergeschlechtlichkeit im 19. Jahrhundert vgl. Klöppel (2010), S. 235ff.
  5. vgl. Klöppel (2010), S. 267f. & Lambertz (1994), S. 34, 56ff.
  6. vgl. Lambertz, Sigrid: “Die femme des lettres“ im “Second Empire“. Juliette Adam, André Léo, Adèle Esquiros und ihre Auseinandersetzung mit dem weiblichen Rollenbild im 19. Jahrhundert. Saarbrücker Hochschulschriften 24. St. Ingbert 1994, S. 35.
  7. Lambertz (1994), S. 35, 50.
  8. vgl. Mildenberger, Florian: Diskursive Deckungsgleichheit – Hermaphroditismus und Homosexualität im medizinischen Diskurs (1850-1960). in: Stahnisch, Frank / Steger, Florian (Hg.): Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen. Geschichte und Philosophie der Medizin. Band 1. Wiesbaden 2005. S. 259-283, S. 261.
  9. vgl. Lafrance, Mélisse: Uncertain erotic: a foucauldian reading of Herculine Barbin dite Alexina B. in: Journal of Twentieth-century/contemporary French Studies 6. 2002, S. 119-131. S. 124f.
  10. vgl. Lambertz (1994), S. 35.

Reihenverlaufsplan

Lernziel der Reihe Die Memoiren der_des Herculine Barbin

Die Erinnerungen Barbins und das Thema Intergeschlechtlichkeit insgesamt bieten ein großes Potential für queere Betrachtungsweisen.1 Die Biographie Barbins macht deutlich, dass Barbins Zeitgenossen und Zeitgenossinnen ein jeweils geschlechterspezifisches Verhalten erwarteten und jeden Menschen entweder zum weiblichen oder männlichen Geschlecht zuordneten. Der Umstand, dass Barbin erst dem weiblichen und dann dem männlichen Geschlecht zugewiesen wurde, macht es möglich, das Konstrukt der Zweigeschlechtlichkeit in Frage zu stellen.

Das Nachdenken und Infragestellen der dichotomen Geschlechterordnung ist für den Unterricht relevant, da auch in der Gegenwart der medizinische Umgang mit Intergeschlechtlichen kritisiert wird und Geschlecht auch für die Schüler_innen selbst eine identitätsstiftende Kategorie darstellt.2

Diese Unterrichtsreihe führt gleichzeitig eine im Unterricht i.d.R. selten genutzte Quellengattung ein, das Selbstzeugnis. Selbstzeugnisse als historische Quellen eröffnen die Möglichkeit einer Annäherung an ein historisches Individuum auf mentalitätsgeschichtlicher Ebene.3 Wenn das Ziel von Queer ist, sexuelle Identitäten, Machtformen und Normen zu analysieren und zu dekonstruieren4, dann eignen sich Selbstzeugnisse in Ergänzung mit normativen Quellen besonders gut, um heteronormative bzw. binäre Geschlechtersysteme in einer Gesellschaft (vgl. Machtformen bzw. Diskurse) aufzudecken.

Schließlich werden die Erinnerungen Barbins genutzt, um den Begriff Gender erweitert zu begreifen. Dazu können aus Quellenausschnitten der Erinnerungen Aspekte der Intersektionalität herausgearbeitet werden: zur strukturellen Herrschaft (in Medizin, Kirche & Presse), zur symbolischen Repräsentation (durch Gefühle von Barbin und anderen Personen) und zur Identitätskonstruktion (an sich durch den Schreibprozess der Erinnerungen). Beim Analysieren dieser Quellenausschnitte kann somit herausgearbeitet werden, dass Konstruktion von Identität durch die Wechselwirkung der Wahrnehmungen unterschiedlicher Personen und gesellschaftlicher Bereiche entsteht.5

  1. vgl. Janssen, Joke: Theoretisch intersexuell. Wie intersexuelle Menschen zwischen den Zeilen bleiben. in: AG Queer Studies (Hg.): Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen. Hamburg 2009. S. 165-184, S. 165.
  2. vgl. Klöppel (2010), S. 28ff. & Lücke (2007), S. 131f.
  3. vgl. Bischoff, Nora / Martin Lücke: Die Aufsätze der Jungen aus Struveshof: Selbstzeugnisse, Ego-Dokumente und das Problem der Authentizität. in: Werkstatt Alltagsgeschichte (Hg.): Du Mörder meiner Jugend: Edition von Aufsätzen männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik. Münster 2011, S. 20-31.
    4. vgl. Finzsch, Norbert: Becoming Gay: Deleuze, Feminismus und Queer Theory. in: Invertito: Jahrbuch für die Geschichte von Homosexualitäten. 12. 2010. S. 125-145, S. 126.
    5. vgl. Czollek /Perko (2008), S. 64ff, Bischoff / Lücke (2011), S. 20ff, Lücke (2011), S. 214ff & Lücke (2012), S. 136ff.