Hintergrund

Annas Kindheit im Dorf und Jugend im Internat

Quellen/Material

Thomann from Agentur Bildung on Vimeo.

Annas Kindheit im Dorf

Anna Thomann: Kindheit – Jugend – Alltag. Da in der Kindheit fand ich es natürlich sehr schön, wenn wir draußen sein konnten. Weil ich bin ja in so einem kleinen sauerländischen Bergarbeiterdorf geboren und aufgewachsen, unter sehr / heute nicht mehr vorhandenen Umständen. Das war ja 1950, da war der Krieg fünf Jahre vorbei.In diesem sauerländischen Dorf gab es eine sogenannte Stalag, da waren Kriegsgefangene in dem was sie heute (Schützenhalle (2:25) nennen, wo sie ihre Musik spielen. Und es hatte sich auch diese Stimmung dann in diesem Dorf noch ein bis in die 50er Jahre gehalten, nämlich eine gedrückte, ängstliche – Was machen sie nun mit uns?Und während Amerikaner und Russen in diesem Dorf waren, hat das ganze / die ganze Dorfbevölkerung in einem Stollen in diesem Bergwerk sich versteckt.Das heißt, wenn du 1950 wie ich geboren bist, hattest du eine Umgebung, die war schuldbewusst, traumatisiert, nicht fröhlich. Dazu kommt, mein Vater war ein Rumäne, im Sauerland, um Gottes Willen! Och ja, die hat da so einen Zigeuner geheiratet, und auch noch Kinder mit ihm gekriegt, au Backe! Ne. Sowas geht ja gar nicht, würde man heute sagen. Also es war sehr schwierig. Trotzdem fand ich es einfach schön, wenn wir draußen waren.“

Annas Schulzeit

Kirsten Plötz: „Wie war ‘n das so als Mädchen in so ‘nem Dorf aufzuwachsen?“Anna Thomann: „Schwierig, wenn man so ein Mädchen war wie ich, weil, als dann auch in die Schule kam, ich doch recht unangepasst war.Nun muss man sich vorstellen, weil meine Mutter es gewagt hat, in der 50er Jahren einen Rumänen, der durch die Kriegswirren dahin gekommen war, auch nicht gerade glücklich, dieser junge Mann, meine ich, äh, dass sie das gewagt hatte, das in diesem Dorf zu tun, dann kann man ihr eine gewisse Widerständlerischkeit bestimmt nicht absprechen. Das kriegt so ‘n Kind natürlich mit.So. Und dann kommst/ komm/ kam ich in die Schule, und meine Mutter hat zu mir gesagt: Pass auf, da musst du jetzt jeden Tag hingehen, das machst du auch. Wenn du nach Hause kommst, reden wir drüber, was sie dir da erzählt haben und dann überlegen wir, was du behältst. Stellen Sie sich das mal vor. In der Zeit 50er Jahre bis zu den 60er Jahren, da war das nicht so. Da waren in der Schule die Lehrer auch verunsichert, zum Beispiel, einer war im Krieg gewesen und erzählte immer, wie er fast verhungert ist, und haben sehr wenig so an diese wirkliche Bildung von uns gedacht. Das war ‘n Dorf. Da waren immer zwei so Klassen, oder wie man das nennt, Alterskohorten in einer Klasse, ne, erstes-zweites, drittes-viertes, länger war ich da ja auch nicht. Und das heißt, da ein Mädchen zu sein, das war für mich nahezu, wie soll ich das ausdrücken? Also ich habe das sehr deutlich gespürt, dass das falsch war. Weil, die dööfsten Jungen, die durften viel mehr. Und ich hab immer nur gestaunt, ich hab auch hinterher noch viel gestaunt. Ich glaube, ich habe bis ich weit über 20 war dieses Staunen nicht verloren, was ich da als Mädchen in diesem Dorf mitgekriegt habe. So war das.Heute haben wir solche Naturkunde. Guckt der Lehrer auf die Uhr, sagt: Alle Jungs laufen in den Wald und fangen Salamander. Tja, und ich konnte da sitzen und sollte dann irgendwann auch noch solche Handarbeiten machen. Kinder, das konnt‘ ich nicht. Meine Feinmotorik war dafür nicht geeignet. Und ich hatte auch keine Lust, wirklich, solche Nadeln anzufassen und solche komischen Sachen zu machen. Ich habe es nicht gemacht. Das Ergebnis war natürlich, dass man mich für störrisch hielt, vielleicht hatte ich das von meiner Mutter sogar ein bisschen so verinnerlicht, die ja nun eine aufrechte Frau war. Ich habe auf jeden Fall solche Dinge nicht getan. Aber, wenn die Jungs so was machten, da hätt‘ ich viel mehr Lust zu gehabt. Das hat mich da viel mehr fasziniert.Ich fand’s lächerlich und ich denke, dass mich mein Staunen und mein Lachen lange Zeit auch gerettet hat, vor was weiß ich, schlimmen Gefühlen oder sonst was. „

Annas Zeit im Internat und das „Geheimnis“ des Dorfes

„Es waren ja Geheimnisse um uns herum. Es waren ja Geheimnisse. Guck mal, ich bin dann ziemlich früh ins Internat gekommen.Und dann bin ich in die, da erinnere ich mich sehr gut, bin ich in die Bibliothek dieser sauerländischen Kleinstadt gegangen und dann hab ich mir Bücher geholt über den Krieg. Und da stand auch drin, so, dass Juden vernichtet wurden. Da waren schreckliche Bilder drin von toten Menschen, von toten Körpern, nich, und diese, als ich mir die Bücher ausgeliehen habe, hat die Frau, die die ausgeliehen hat, gesagt, dass ich das nicht darf. Hab ich gesagt: Doch, ich darf das. Hab ich die mitgenommen. Dann kam ich dann in diese Internats- äh, wie soll ich sagen, Internatsvorflur da zurück, schon kam Schwester Rosaria auf mich zugerannt und hat mir die Bücher abgenommen. Also wusste ich, es is ein Geheimnis. Aber sie hat mir überhaupt nichts gesagt, ne. Ich weiß nicht, ob die überhaupt was gewusst hat. Das war noch ‘n größeres Geheimnis.“

Die finnischen Gastarbeiterinnen

„Dann, was ich sehr interessant fand, war, in dem Dorf oder in dieser Kleinstadt war eine Fabrik und in dieser Fabrik arbeiteten wohl die ersten Gastarbeiterinnen der / dieser jungen Republik, es waren Frauen aus Finnland, und die waren schön (lächelt strahlen, gestikuliert ihre Beschreibungen), die hatten sich gepflegt, ihre Haare schön, Fingernägel schön, waren schön angezogen und kamen immer, wenn sie frei, wenn sie diesen Feierabend hatten bei unserem Fenster vom Internat, an diesem Silenziumtraum unten vorbei. Und wenn wir, die wir dann immer ans Fenster liefen und sie bewunderten, jetzt aus der Schule kamen, in den Speisesaal gingen, dort, schon mal den dort immer schon bereitstehenden Nachtisch irgendwie so ‘n Löffel genommen haben oder so, kam Schwester Rosaria und brüllte: Ihr könnt euch nicht beherrschen, ihr werdet wie die Finninnen, ihr werdet alle Nutten, und da hab ich gedacht, oh, das ist aber toll, ich möchte auch, was ‘ne Nutte war, wusste ich nicht, ich möchte auch wie die Finninnen werden, so toll aussehen, so schön, hübsche Haare haben, hab ich natürlich diesen Pudding direkt aufgegessen, wenn ich da aus der Schule kam, es ist nicht passiert, stattdessen hat diese Schwester sich fürchterlich aufgeregt und gesagt, von allen würde ich als erste eine Nutte werden, weil ich mich ja überhaupt nicht beherrschen könnte. Das war sehr prägend, weil von da an hab ich mich natürlich interessiert, was ‘ne Nutte ist und wollte es auch mal wissen, hab das dann auch erfahren.[…] ich wusste nur, dass ich Gefühle hatte, aber die konnt‘ ich noch gar nicht zuordnen, ne. Ja, langer Rede gar kein Sinn, es war also so, dass ich in diesem Internat eigentlich so geprägt wurde, dass ich mal erfahren habe, dass ich A ein sexuelle Wesen bin, dass ich B offensichtlich falsch empfinde,[…] und ich hab dann auch langsam erfahren, was es heißt, ein Mädchen zu küssen und dass es schön ist und dass es auch wahrscheinlich das ist, was ich will, so, das waren die Prägungen, denk ich. Ansonsten war mir sehr wichtig, viel zu lernen, das hab ich immer gern gemacht.“

Der Friseur im Dorf

„Und ich bin ja auch in den Ferien so zu Hause gewesen und ich hab da eine Geschichte gehört, da gab’s einen Frisör, und dieser Frisör, hörte ich, dieser Frisör der is ja andersrum, und der war auch schon im Gefängnis deshalb, aha!, da gab’s ja noch den 175er und da kamen Männer noch ins Gefängnis, wenn sie Männer liebten. Und, was jetzt andersrum war, das wusste ich ja inzwischen, dass das Schweine waren, von Rosaria im Internat. Und da erfuhr ich nun, dass es so was gab in dem Dorf. Und, Sie machen sich kein Begriff davon, wie grausam diese Menschen sind, wie sie ausgrenzen, wie sie verachten und wie sie dann wieder hingehen und sich die Locken machen lassen, ne, das is / also ich weiß es nicht, wie ich das nennen soll. Ich möchte damit nichts zu tun haben, hab ich damals beschlossen. Ich möcht‘ mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Punkt. Hab ich auch nicht, bis heute nicht. Das is einfach ein schräges Verhältnis, so.“

Arbeitsaufträge

Aufgabe 1a

Seht Euch das Video von Minuten XXX bis Minute YYY von Anna Thomann an. Sie erzählt von ihrer Kindheit im Dorf und ihrer Jugend im Internat. Notiert Euch die drei (Eurer Meinung nach) wichtigsten Einflüsse, die Anna in dieser Zeit geprägt haben.

Tipp: Ihr könnt Euch zunächst alleine drei Dinge in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit notieren und diese dann zu zweit vergleichen. Anschließend könnt Ihr in der großen Gruppe diskutieren, wer was in ihrer_seiner Liste aufgenommen hat und warum. Gibt es bei Euch Gemeinsamkeiten? Was steht oft ganz oben? Was kommt nur selten vor?

Aufgabe 1b

Beschreibt wie sich Anna in ihrem Dorf und ihrer Schule als Mädchen fühlt. Welche Dinge darf oder soll sie als Mädchen machen, welche nicht? Wie reagiert sie darauf? Diskutiert, worauf diese Tätigkeiten die Kinder und Jugendlichen vorbereiten sollen.

Tipp: Kennt Ihr das auch, dass Ihr etwas Bestimmtes nicht machen sollt, weil es angeblich nur für Jungs oder Mädchen sei? Wie findet Ihr das? Wie geht Ihr damit um?

Aufgabe 2

Im Dorf scheint es viele Geheimnisse zu geben. Anna spricht unter anderem von einem besonders großen, das das Dorfleben überschattet. Sie berichtet von ihren Versuchen diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen.

Werdet zu Detektiv_innen und findet heraus: Was ist das für ein Geheimnis? Was ist passiert? Erörtert anhand von Annas Erlebnissen, wer im Dorf was darüber weiß oder wissen könnte. Überlegt Euch, warum Anna daran gehindert wird, darüber mehr zu erfahren.

Aufgabe 3

Laut Annas Erzählung gab es im Dorf einen Friseur, der als schwuler Mann bereits von den Nazis verfolgt worden war und auch nach Kriegsende noch im Dorf ausgegrenzt wird. (Zum Paragrafen 175 findet Ihr einen Hintergrundtext auf dem entsprechenden Arbeitsblatt (AB_Der Paragraf 175) bei den Arbeitsmaterialien.

Stellt Euch vor, Anna kommt eines Tages als Jugendliche zu ihm, um sich die Haare schneiden zu lassen. Dabei kommen die zwei ins Gespräch über ihre Homosexualität und ihr Leben im Dorf. Schreibt ein Gespräch auf, das zwischen den beiden stattgefunden haben könnte.

“Und ich bin ja auch in den Ferien so zu Hause gewesen und ich hab da eine Geschichte gehört, da gab’s einen Frisör, und dieser Frisör, hörte ich, dieser Frisör der is ja andersrum, und der war auch schon im Gefängnis deshalb, aha!, da gab’s ja noch den 175er und da kamen Männer noch ins Gefängnis, wenn sie Männer liebten. Und, was jetzt andersrum war, das wusste ich ja inzwischen, dass das Schweine waren, von Rosaria im Internat. Und da erfuhr ich nun, dass es so was gab in dem Dorf. Und, Sie machen sich kein Begriff davon, wie grausam diese Menschen sind, wie sie ausgrenzen, wie sie verachten und wie sie dann wieder hingehen und sich die Locken machen lassen, ne, das is / also ich weiß es nicht, wie ich das nennen soll. Ich möchte damit nichts zu tun haben, hab ich damals beschlossen. Ich möcht‘ mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Punkt.”

Tipp: Schreibt das Gespräch in Partnerarbeit. Anschließend könnt Ihr in verteilten Rollen die Texte in der Gruppe vorlesen oder vortragen (z.B.: eine Person sitzt auf einem (Friseur-)Stuhl, die andere steht dahinter zum Haareschneiden).

Mögliche unklare Begriffe (Erklärt sie Euch gegenseitig oder schlagt sie nach, falls nötig)

  • traumatisiert
  • 175er / §175 (S. Arbeitsblatt “AB_Der Paragraf 175”)
  • Gastarbeiterinnen