Hintergrund

Harm-Peters Jugend im Schatten des Nationalsozialismus

Quelle/ Material

Dietrich from Agentur Bildung on Vimeo.

„Bleierne Zeit“

“Ich ging hin und sagte, ich kann ja ruhig den Vornamen nennen, ist Karl schon zurück? Sagte seine Mutter, ja, der war fix und fertig von der Arbeit, aber geh´ mal in den Garten, der hat sich mal eben hingelegt. Da bin ich rausgegangen in den Garten und da lag er auf dem Liegestuhl und hatte gar keine Zeit gehabt, sich umzuziehen. Und er war braun, und war in seinen Bauarbeiter-Klamotten und, (äh), ja, ich war überwältigt von seiner Schönheit. Es war wirklich, (äh), grade, dass er nicht so adrett daher kam in dem Augenblick, er sah richtig aus wie ein Arbeiter, er hatte blondes, lockiges Haar, er war ein blühender Mensch, er schlief, und er war eigentlich das, wovon ich immer geträumt habe. Und in dem gleichen Moment hatte ich ein würgendes Gefühl, ich kriegte ganz weiche Knie, weil mir in dem Moment klar wurde, deswegen erzähle ich das auch, dass ich das nie würde anstreben können, es würde nie möglich sein. Irgendwie erschien mir das utopisch. Das hat doch eine gewisse Verzweiflung bei mir ausgelöst. Ich war ja nun gerade erst, das war gleich nach dem Abitur, ich war etwa 20 Jahre alt und da ist man ja eh in dem Alter, wo man sich wirklich hell over heels verlieben kann. Und da wurde mir zum ersten Mal (stöhnt), ja, so etwas Schicksalhaftes klar, was im Kontext der damaligen sozialen Vorstellungen völlig unerreichbar war. Man konnte auch gar nicht davon träumen, dass sich das irgendwann einmal ändern wird. (Pause) Dazu würde ich doch mal gerne ganz kurz erwähnen, was mir später klar geworden ist. Später gab es dafür auch diesen Begriff: die sogenannte Adenauer-Zeit. Die Adenauer-Zeit, die für die Deutschen selber ja eine Zeit relativ rascher wirtschaftlicher Erholung bedeutete, also einen ungeheuren Aufbruch.Da war wirtschaftlich alles möglich, das heißt in irgendeiner Weise darüber nachzudenken, dass die Zeit (nachdenklich) vielleicht in anderer Hinsicht noch Mängel hatte und nicht viel Luft zum Atmen, wurde damals auch nicht so richtig spürbar, denn schließlich kam man aus dem Nationalsozialismus, wo ja alles kontrolliert war. Aber im Nachherein gesehen war die Adenauer-Zeit eine sehr restaurative Zeit, eine sehr restriktive Zeit. (äh) Ja gut, das war auch dem Kriegsende geschuldet, dem, was die Nationalsozialisten hinterlassen hatten. Wobei ich auch betonen möchte, dass die Deutschen sich zwar an diesem Wirtschaftswunder begeisterten, das ihnen aber gleichzeitig die scheinbare Rechtfertigung gab, ihnen die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen des Dritten Reiches, und ich spreche insbesondere den Holocaust an, noch für lange Zeit zu verdrängen. Also, wenn man bedenkt, wie schnell das Deutschland wieder auf dem Teppich stand, das waren vier Jahre, und wenn man bedenkt, dass es, in meiner Erinnerung, 25 bis 30 Jahre gedauert hat, bis Deutschland anfing, wirklich gründlich über den Holocaust nachzudenken, dann ist da…, da klafft eine ganz große Lücke. Und in dieser Adenauer-Zeit, da war es eben auch möglich, dass ein Paragraf 175…, ich habe dann ja auch langsam angefangen, mich über solche Dinge zu belesen, ich hab in der Bibliothek unserer Eltern nachgeguckt, nachgeguckt, wo immer es ging. Dass sich an der Gesetzessituation für Schwule in Deutschland nichts geändert hat, dass im Gegenteil die Adenauer-Zeit gegenüber der in der vornationalsozialistischen Ära bereits bestehenden Rechtssituation der Strafverfolgung von Homosexuellen nicht nur nichts geändert hat, sondern dass die Adenauer-Zeit die unter den Nazis sehr stark verschärfte Gesetzgebung unverändert weitergeführt hat. Für Schwule war das eine große Belastung. Distanziert darüber reflektieren kann ich auch nur heute. Mir fehlten einfach die Kenntnisse. Es war nur irgendwo (nachdenklich), ich hab da eine Anleihe gemacht, gedanklich, es war eine bleierne Zeit.”

Selbstmorde?

“Das andere [der andere Vorfall während seiner Göttinger Zeit (Anmerk. Karl-Heinz Steinle)] war in seiner Komplexität, ja, vielleicht noch schrecklicher. (Pause)”“(Pause) Einer meiner Kommilitonen war in diesem Projekt letztlich auch in seiner Doktorarbeit beschäftigt und (Pause) es ergab sich, dass er sich an einem Wochenende, genauer gesagt, an einem Sonntag ins Institut begeben hat und sich dann auch in diese Versuchsanordnung hineingesetzt hat. Und es war eigentlich, das war nicht vorgeschrieben, es war eigentlich selbstverständlich, dass /man das/ immer nur in Anwesenheit aller anderen machte. Ich glaube, das war sogar irgendwo eine Vorschrift. Es war aber eigentlich auch allen klar. Um es kurz zu machen, er ist da in der Versuchsanordnung, wahrscheinlich an Sauerstoffmangel, verstorben. Ja. Und das ist der eine Teil, der offiziell bekannt wurde und das hat großes Entsetzen ausgelöst. Und das hat auch in der Institutsleitung Entsetzen ausgelöst. Und alle haben darüber gerätselt, natürlich kamen auch die Eltern, es waren sehr prominente Leute. Die kamen auch und waren entsetzt. (Pause) Aber es hat niemand gedacht, was man eigentlich hätte denken müssen und sollen. Und das ist unter uns Kollegen klar geworden: Er hat diese Situation benutzt, um aus dem Leben zu scheiden. Das war unter uns, die wir im weitesten Sinne mit diesem Projekt zu tun hatten, bekannt, oder sagen wir mal, die Schlussauffassung. Was die anderen wiederum nicht gewusst haben, ich wusste, dass er schwul war und dass er irgendwo auffällig geworden war. (äh) Das wurde mir später mal berichtet. Da hat irgendjemand ganz unbefangen gesagt, der hat doch aus dem und dem und dem Grunde Selbstmord begangen. Da hab´ ich noch gedacht, da ist mir das überhaupt erst klar geworden. Ich hab´ zwar gesagt Selbstmord, aber nicht aus dieser Konstellation. (äh) Sie werden mir vorwerfen können, dass das natürlich nicht im letzten Punkt bewiesen ist, aber ich halte das für nicht ausschließlich spekulativ. Weil für mich erklärt sich das aus dieser Erkenntnis. (äh) Und (äh) mich hat das damals sehr deprimiert.”“Ja, das sind diese, das sind diese Dinge, die die bleierne Zeit ausmachten. Mich hat es ja nicht betroffen, aber das war etwas, was irgendwo immer als Bedrohung immer in der Luft hing. Das man dachte, gut, das und das und das kann´ste alles machen, aber das und das und das darf dir nicht passieren. Und (Pause) das hat etwas damit zu tun, dass man seinem Leben, auch seinem beruflichen Leben, eine gewisse, ich würde nicht sagen opportunistische, aber situationsangepasste Wende gegeben hat oder dass das den beruflichen Werdegang auch in einer bestimmten Art und Weise beeinflusst hat.”

Arbeitsaufträge

Aufgabe 1

Im Zusammenhang mit seiner Jugend spricht Harm-Peter von einer “bleiernen Zeit” – was fällt Euch spontan zu diesem Begriff ein? Seht Euch anschließend die nächsten Videos (B2.1 & B2.2) an und vergleicht eure Überlegungen mit Harm-Peters Erzählung.

Tipp: Ihr könnt eure Einfälle in einer Mindmap ordnen.

Aufgabe 2a

Harm-Peter beschreibt, wie es ihm beim Anblick seines Klassenkameraden Karl ging:

“Und er war braun, und war in seinen Bauarbeiter-Klamotten und, ja, ich war überwältigt von seiner Schönheit. Es war wirklich, grade, dass er nicht so adrett daher kam in dem Augenblick, er sah richtig aus wie ein Arbeiter, er hatte blondes, lockiges Haar, er war ein blühender Mensch, er schlief, und er war eigentlich das, wovon ich immer geträumt habe. Und in dem gleichen Moment hatte ich ein würgendes Gefühl, ich kriegte ganz weiche Knie, weil mir in dem Moment klar wurde, deswegen erzähle ich das auch, dass ich das nie würde anstreben können, es würde nie möglich sein. Irgendwie erschien mir das utopisch. Das hat doch eine gewisse Verzweiflung bei mir ausgelöst. Ich war ja nun gerade erst, das war gleich nach dem Abitur, ich war etwa 20 Jahre alt und da ist man ja eh in dem Alter, wo man sich wirklich hell over heels verlieben kann. Und da wurde mir zum ersten Mal, ja, so etwas Schicksalhaftes klar, was im Kontext der damaligen sozialen Vorstellungen völlig unerreichbar war. Man konnte auch gar nicht davon träumen, dass sich das irgendwann einmal ändern wird.”

Findet heraus, in welchem Jahr diese Begegnung genau stattfand. Wie erklärt Ihr Euch seine widersprüchlichen Gefühle?

Aufgabe 2b

Harm-Peter erwähnt den “Paragraphen 175”. Habt Ihr schon einmal davon gehört? Lest Euch den Hintergrundtext zu diesem Paragraphen durch. Ihr findet ihn als Arbeitsblatt (AB_Der Paragraf 175) bei den Arbeitsmaterialien . Tauscht Euch dann über die Geschichte und Bedeutung des Paragraphen aus. Diskutiert gemeinsam, was dieser Paragraph für Harm-Peter bedeutet hat.

Tipp: Malt auf einem großen Plakat einen Zeitstrahl und markiert darauf oberhalb Einführung, Verschärfung, Abschwächung und Abschaffung des Paragraphen 175. Zeichnet unterhalb des Zeitstrahls die Euch bekannten Eckpunkte von Harm-Peters Leben ein.

Aufgabe 3

Woher wusste der junge Harm-Peter, dass die damalige Gesellschaft sein Schwulsein nicht akzeptierte? Denkt Euch in Stillarbeit drei Situationen aus, in denen sein Umfeld ihm das vermittelt haben könnte.

Tipp: Was sind die ersten Momente, an die Ihr Euch erinnert, in denen Schwul- oder Lesbisch-Sein zum Problem gemacht (d.h. als “seltsam”, “unnormal”, “unnatürlich”, oder sogar als “krankhaft” bezeichnet) wurde?

Mögliche unklare Begriffe (Erklärt sie Euch gegenseitig oder schlagt sie nach, falls nötig.)

  • Ära
  • Drittes Reich
  • “hell over heels”
  • Holocaust
  • Kommilitone
  • spekulativ
  • Suizid
  • restriktiv und restaurativ
  • utopisch
  • Bundeskanzler Konrad Adenauer, Adenauer-Zeit, Ära-Adenauer