Hintergrund

Homosexualität und Beruf

Quelle/Material

Dietrich from Agentur Bildung on Vimeo.

Kindheit und Jugend

Ich bin Harm-Peter Dietrich. Ich bin 78 Jahre alt und wohne in Berlin. Ich bin Arzt im Ruhestand. (Pause) Wenn ich Ihnen als junger Mensch weiter antworten sollte, dann geht es wahrscheinlich darum, dass Sie sich dafür interessieren, wie ich selber als junger Mensch gelebt habe, wie ich in den 30er Jahren aufgewachsen bin und wie sich mein Leben entfaltet hat. Und dazu vielleicht das Folgende: ich bin in einer Kleinstadt, in einer Kreisstadt im Rheinland in der Nähe von Köln geboren, wie ich schon sagte, in den 30er Jahren, zu einer Zeit, als, äh, nach der sogenannten Machtergreifung, wo sich politisch unheimlich viel in Deutschland bereits tat, was man in dieser Umgebung damals überhaupt noch nicht wahrgenommen hat. (Äh) Ich möchte eigentlich sagen, dass durch den Umstand, dass ich in einer gutbürgerlichen Familie aufwachsen konnte, eine relativ, sehr angenehme Kindheit hatte. Wir waren insgesamt drei Jungs. Unsere Eltern haben sich sehr um uns kümmern können. Unser Vater war Arzt. Auch eine gewisse…, er gehörte zu einer gewissen Prominenz, städtischen Prominenz in diesem kleinstädtischen Umfeld. Unsere Mutter war Apothekerin, also unsere Eltern waren bekannt und wir waren daher auch bekannt. Das war zum Teil angenehm, zum Teil nicht immer angenehm, aber es war eigentlich eine sehr glückliche Kindheit im Nachherein betrachtet.
[…]
Ja, ich hatte eine ganz normale Volksschulzeit, die ich in sehr schöner Erinnerung habe, und eine Gymnasialzeit, die ich eigentlich in noch sehr viel besserer Erinnerung habe. Ich gehör´ zu den Menschen, die sagen können: ich bin sehr gerne zur Schule gegangen. Ich fand das sehr anregend, sehr interessant. Meine Eltern waren in dieser Hinsicht ja auch sehr anregend. Sie waren selber, grundsätzlich aus großbürgerlichen Verhältnissen stammend, eher liberal, sie haben sehr viel an Bildung an uns herangetragen, es wurde viel über Bücher, es wurde über Religion diskutiert. Ich muss dazu sagen, ich bin sehr intensiv protestantisch religiös erzogen worden, was seine Ursache darin hatte, dass ich ja im Rheinland, im katholischen Köln quasi, als Protestant in der Diaspora aufgewachsen bin.

Homosexualität und Beruf

“Ich hatte nun Medizin studiert und sagte mir, und jetzt kommt dieses Element, was ich vorhin schon einmal erwähnte, dass man sich überlegt, wie…, was machst du und behältst gleichzeitig einen gewissen Schutz bei. Und da hab ich gedacht, ein stadtbekannter Arzt kann ich nicht werden. Das wird in null Komma nichts…, wenn das bekannt wird, ist es aus. Und deswegen hab´ ich mir gedacht Klinikarzt.
Und dann kam plötzlich die Anästhesie. Das war ja ein aufkommendes Fach. Und das war vielleicht ein Ausdruck eines gewissen fachlichen Opportunismus, kombiniert mit den Möglichkeiten eines vollkommen neuen Faches, dass ich mir sagte: der Narkosearzt hat hochverantwortliche Aufgaben, die ihn sehr fordern. Das war vielleicht damals in der Zeit den Menschen noch gar nicht so bekannt. Im Grunde ist es ´ne Hochleistungsmedizin. Vor allem, als Anästhesie dann mit Intensivmedizin gekoppelt wurde. Aber er [der Narkosearzt (Anmerk. Karl-Heinz Steinle)] entwickelt nicht dieses unmittelbare, zwar wünschenswerte, aber in dem Falle vielleicht doch nicht so günstige langanhaltende persönliche Verhältnis zu Patienten und ihren Angehörigen. Das heißt, man kann da sich beruflich ausleben, man ist aber nicht der Doktor, der im Fokus der Familie von Patienten spielt, der da auch genau beobachtet wird. Also, das hat ´ne große Rolle gespielt.”Herzinfarkt“ Im Jahre 2009, schon hier in Berlin, habe ich einen schweren Herzinfarkt erlitten. Ich habe es mit Mühe und Not ins Herzzentrum geschafft, aus bestimmten Gründen, weil mir da auch Leute bekannt waren. Im Übrigen ist das Herzzentrum ja dafür nun allerbestens ausgestattet. Und ich habe mit Hilfe der ärztlichen Kollegen diesen schweren Infarkt überlebt. Bin einige Tage auf der Intensivstation gewesen und plötzlich… Ich war nie vorher als Patient auf irgendeiner Intensivstation (schmunzelt), plötzlich war ich auf einer Intensivstation und wurde vom Pflegepersonal gepflegt. Und das war hier in Berlin so, dass ich spürte, dass hochqualifiziertes, auch vorwiegend männliches Pflegepersonal in der Herzklinik war, die auch, ich würde mal sagen, zu einem größeren Teil schwul waren. Und die einfach hochprofessionell waren und die auch in völliger Unbefangenheit da arbeiteten. Und dass das jetzt wirklich sozusagen etabliert war, dass sie in dieser Hinsicht gar keine Ausnahme darstellten und gleichzeitig so gut waren…, das war für mich, ja, ein abschließend sehr positives Erlebnis. Irgendwie als Abschluss zu dem, was ich vorher erlebt habe. Dass ich gedacht habe, Donnerwetter, sowohl vom professionellen Aspekt her, als auch von dem Aspekt her, dass ich selber schwul bin, ist es schön, das mal zu erleben nach so vielen Jahren, dass die richtig reüssiert haben. Dass sie also voll drin sind und das auch sehr gut kennen.”

Schwule Pfleger

Und ich möchte herausstellen, dass mir sehr bald auffiel, dass (äh) eigentlich unter den profiliertesten männlichen Pflegekräften Schwule, junge Schwule waren. (äh) Und damit hab´ ich in meiner eigenen Situation natürlich auch (äh) zum Teil etwas schwierige Momente erlebt. An sich muss ja ein Arzt, der eine Intensivpflegestation leitet, natürlich auch eine Autorität ausstrahlen, aber diese Menschen haben mich natürlich auch teilweise auch in der Szene erlebt, das heißt nicht grade so in einer etwas schlechter beleumdeten Szenelokalität. Aber es gab zum Beispiel Isar aufwärts schwule Strände in Naturschutzgebieten. Da traf man seine pflegerischen Kollegen. (schmunzelt) Man hat sich dann ganz schlicht begrüßt und ansonsten nur respektiert. Das heißt, also es führte dazu, dass es denjenigen, die es wissen wollten, auch gar nicht irgendwie…, für die kein Geheimnis war, wie meine eigene Orientierung lag. Das war auch so, wenn man dann angerufen wurde zu Hause, dann war ja auch nicht unbedingt notwendiger Weise eine Ehefrau am Apparat wie bei all den anderen, sondern vielleicht ein Freund oder sonst noch was. (äh) Das machte eigentlich gar kein Problem, möchte ich wirklich sagen. Es machte einmal ein Problem (äh), als man mir wirklich, und ich würde mal sagen, einfach so aus opportunistischen Gründen, jemand positionsbedingt meinte, er müsste diese Konstellation bei mir (schmunzelt), ich drück mich ein bisschen rätselhaft aus…, also, die Tatsache, dass ich schwul war, in die Debatte zu werfen. Das wurde natürlich nicht offen gemacht, sondern mit Andeutungen gearbeitet und so weiter und so fort.Und da bestätigte sich etwas, was ich früher, glaub´ ich, schon mal erwähnt hatte. Dass man einfach dafür sorgen muss, dass man qualifiziert ist. Dass man in der Situation auch von dieser Tatsache gedeckt wird, dass man qualifiziert ist. Dass man sagt, na, was soll´s, solche Leute brauchen wir eben. Ja, ich würde mal sagen, über diesen Ansatz ging das dann plötzlich.Die Schwulenbewegung ist heute sehr stark vom Diversity-Gedanken geprägt. Das heißt, es wird vielen Unternehmen beigebracht, Sie können am Ende noch mehr umsetzen und noch erfolgreicher sein, wenn Ihr Euch die spezifischen Qualitäten von schwulen Menschen zugute macht, zunutze macht. (äh) Im Grunde genommen ist das…, es hat mich immer etwas geärgert …, grade auch für mich, der ich ja nun die gesamte schwule Emanzipation miterlebt habe, da habe ich immer gedacht, können wir nicht einfach um unserer selbst akzeptiert werden. Muss es denn tatsächlich bei irgendwelchen Leuten noch…, muss da noch die Kasse klingeln nach dem Motto: wenn wir da und da und da einsetzen und immer einsetzen können, da ist es für uns besser, weil die sind eben…, die bringen eben Qualifikationen mit, die andere nicht mitbringen. Und sei es ganz einfach, dass sie familiär weniger gebunden sind, dass sie vielleicht…, manche von denen kommunikationsbereiter sind als andere, oder dass sie noch wieder andere Qualitäten haben.”

Arbeitsaufträge

Aufgabe 1

“Seht Euch die ersten Videos (B1.1-B1.4) zum Thema Homosexualität und Beruf an. Notiert Euch dabei die Dinge im Lebenslauf von Harm-Peter, die Euch wichtig erscheinen. Wie hat seine Sexualität seine beruflichen Entscheidungen beeinflusst?”

Tipp: Ihr könnt auch ein Bild zeichnen, wie sein Lebenslauf oder Facebook-Profil aussehen könnte!

Aufgabe 2

Harm-Peter sagt über die Anerkennung von Homosexualität im Berufsleben:

“Und da bestätigte sich etwas, was ich früher, glaub´ ich, schon mal erwähnt hatte. Dass man einfach dafür sorgen muss, dass man qualifiziert ist. Dass man in der Situation auch von dieser Tatsache gedeckt wird, dass man qualifiziert ist. Dass man sagt, na, was soll´s, solche Leute brauchen wir eben. Ja, ich würde mal sagen, über diesen Ansatz ging das dann plötzlich.
Die Schwulenbewegung ist heute sehr stark vom Diversity-Gedanken geprägt. Das heißt, es wird vielen Unternehmen beigebracht, Sie können am Ende noch mehr umsetzen und noch erfolgreicher sein, wenn Ihr Euch die spezifischen Qualitäten von schwulen Menschen zugute macht, zunutze macht. Im Grunde genommen ist das…, es hat mich immer etwas geärgert …, grade auch für mich, der ich ja nun die gesamte schwule Emanzipation miterlebt habe, da habe ich immer gedacht, können wir nicht einfach um unserer selbst akzeptiert werden. Muss es denn tatsächlich bei irgendwelchen Leuten noch…, muss da noch die Kasse klingeln nach dem Motto: wenn wir da und da und da einsetzen und immer einsetzen können, da ist es für uns besser, weil die sind eben…, die bringen eben Qualifikationen mit, die andere nicht mitbringen. Und sei es ganz einfach, dass sie familiär weniger gebunden sind, dass sie vielleicht…, manche von denen kommunikationsbereiter sind als andere, oder dass sie noch wieder andere Qualitäten haben.”

Was ist der “Diversity-Gedanke”, den Harm-Peter erwähnt? Erörtert, was ihn daran stört.

Tipp: Die berufliche Qualifikation von Harm-Peter hat (zumindest in seinem Beruf während der 1990er Jahre) zu einer Akzeptanz seiner Sexualität geführt. Denkt Euch Beispiele aus, wem dieser Weg nicht offensteht.

Aufgabe 3

Diskutiert gemeinsam, wie sich die Situation von Schwulen im Laufe Harm-Peters Leben verändert hat.

Tipp: Harm-Peter erzählt im Interview von seinem Herzinfarkt im Jahr 2009 und dem anschließenden Zusammentreffen mit einem jungen, schwulen Krankenpfleger. Überlegt Euch in Kleingruppen ein mögliches Gespräch zwischen beiden, in dem sie sich über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in ihrem Leben als Schwule austauschen.

Mögliche unklare Begriffe (Erklärt sie Euch gegenseitig oder schlagt sie nach, falls nötig.):

  • Anästhesie
  • Autorität
  • beleumdet
  • Diaspora
  • Diversity (-Ansatz, -Gedanke, …)
  • Emanzipation
  • etabliert
  • liberal
  • Machtergreifung, Machtübergabe
  • Narkose
  • Opportunismus
  • profiliert
  • Prominenz
  • qualifiziert
  • reüssieren