Hintergrund

Maria Sabine Augsteins Jugend und ihr Weg zum selbstbestimmten Geschlecht

Quelle/Material

Augstein from Agentur Bildung on Vimeo.

Kurzvorstellung [02:08 min]

Frau Augstein: „Ja, ich bin Maria Sabine Augstein, 64 Jahre alt. Ich bin eine gewordene Frau. Das bedeutet, dass ich mich 1977 in Singapur vom Mann zur Frau geschlechtsumwandelnd operieren ließ. Ich bin lesbisch, und lebe seit 35 Jahren mit meiner Frau, Inea Gukema-Augstein. Beruflich als Rechtsanwältin sind meine Schwerpunkte die Rechtsprobleme der Transsexualität, der ganze Papierkram, auch neue Zeugnisse und die Verfahren gegen Krankenkassen, äh, wegen Kostenübernahme für geschlechtsumwandelnde Maßnahmen. Und ein weiterer Schwerpunkt ist die Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe.

Sexualität und Geschlecht in Marias frühester Jugend [03:03 min]

Frau Augstein: Ja, dann würde ich sagen, dann fang ich doch mal an mit meinem / meiner Selbstfindung. Ich war bei einer Pflegefamilie vom 8. bis 17. Lebensjahr. Meine Mutter konnte mit meinem Anderssein nicht umgehen und dann fand mein Vater, dass ich doch ruhig in diese Pflegefamilie bei seiner Schwester, äh, kommen soll. Und, äh, dass ich lieber ein Mädchen wäre und lie- / und dann auch eine Frau werden möchte, das hatte ich seit meinem 5.Lebensjahr. Ich, äh, erinnere mich, also meine Mutter hatte einen schweren Verkehrsunfall und ich kam dann ins Kinderheim und hatte da auch große Angst, dass war alles so fremd, äh, für mich. Und da kam mal, da war ich fünf, und da kam ein acht bis zehnjähriges Mädchen an mein Bett und strich mir mit der Hand über den Kopf und sagte, ich muss kein / müsse keine Angst haben. Und die hatte ein sehr schönes Nachthemd an und dis, äh, dass war für mich so der Punkt, „ja, ich hätte auch gern so ein Geschlecht, ich möchte auch lieber ein Mädchen sein, ich möchte später eine Frau werden“. Dieses Gefühl des Andersseins hat dann mein weiteres Leben bestimmt, das war unterschwellig immer da, auch wenn ich natürlich mich, äh, den, äh, auch der anderen Familie und der Schule und den äußeren Dingen stellen musste. Aber da war eine Sache, die war schwierig für mich: Äh, ich hatte absolut nichts für das männliche Geschlecht übrig, im Gegenteil: Als ich in diese Pflegefamilie kam, im Alter von acht Jahren, habe ich mich in meine Cousine Maria verliebt, die war drei Jahre älter, Jahrgang 1946. Und ähm, das habe ich irgendwie nicht so ganz zusammen bekommen, da brauchte ich noch / noch Jahre. Ich habe dann, im Alter war ich dreizehn, ein, äh, einen Bericht über den Bergmann-Film, „Das Schweigen“ gesehen. Und, äh, in diesem Film hat die lesbische Esther ihre Schwester Anna geliebt und begehrt. Äh, die Anna war aber leider heterosexuell. Aber jedenfalls kam in diesem Bericht auch dis berühmte „L-Wort“ vor und ich hab das dann nochmal in meinem Lexikon nachgeschlagen, „lesbische Liebe, Liebe unter Frauen“, und das war für mich das fehlende Stück. Als Frau wollte ich dann auch lesbisch sein und wollte Frauen lieben. Damit war mir im Grunde, mit dreizehn, meine Identität im wesentlichen klar.

Konstanze Plett: […] Ihre Gefühle haben Sie bemerkt aber konnten Sie überhaupt mit jemandem drüber sprechen?

Frau Augstein: Nein, ich habe auch bewusst davon abgesehen. Äm, das war auch sehr vernünftig. Man stelle sich das vor, ich hätte meiner Pflegefamilie mit dreizehn gesagt, „ich bin eigentlich ein lesbisches Mädchen“, also völlig undenkbar. Äh, jetzt war auch die Zeit wo meine Mutter mich eigentlich ins Exil verbannen wollte, auf so ein englisches Eliteinternat, wo ich also jahrzeh-, jahrelang kein weibliches Wesen zu Gesicht bekommen hätte. Das wollte ich natürlich auf gar keinen Fall. Äh, mir wurde später erzählt, ich hätte mit Selbstmord gedroht, wenn man das macht. Woran ich mich noch erinnere, dass meine Pflegemutter, Tante Anneliese, mir sagte, wenn das wirklich spruchreif werden sollte, dass ich da nach England muss, dann gibt sie mir 300 Mark mit und dann fahre ich mit dem Zug wieder nach Hannover.

Der schwierige Weg zum Coming-out [06:38 min]

Konstanze Plett: Aber das heißt, also das Sie das alles, Ihre Gefühle, die Sie ja auch sicher erstmal sortieren mussten und äh-

Frau Augstein: Ja, sortiert hatte ich sie also allerspätestens 16, aber ich hatte mir, ich dachte mir, äh, ich werde erst dann mich, äm / mich gegenüber anderen Menschen dazu äußern, wenn der Weg wirklich spruchreif ist, wenn ich sagen kann: „Jawohl, jetzt werde ich eine Frau“. Dann, vorher nicht. Sonst habe ich das schlechte aus beiden Welten, dass ich ange- / angefeindet werde und trotzdem nichts für meinen Weg tun kann.Konstanze Plett: Und, äh, woher wussten Sie, oder was war Ihre Vorstellung, wie Sie den Übergang, äh, von, von Mann zu Frau-Frau Augstein: Ja, da hab ich natürlich noch nicht so, em, ich stellte mir das schon auch sehr schwierig vor. Und mit 18, 19, 20 habe ich mich nicht stark genug gefühlt auch den / mich den Anfeindungen der Umwelt zu stellen, und ich habe deswegen erst / ich hab mich erst mit Mitte 20 stark genug gefühlt, dass ich den Weg auch gehen kann und dass ich dann, äh, auch fertig werden- werde, mit eventuellen Anfeindungen, Diskriminierungen, äh, der Umwelt.

Konstanze Plett: Öm, das heißt also, Sie haben Schule und, äh, Studium alles vorher abgeschlossen?

Frau Augstein: Ja! Ja, ja. Als ich dann / als es dann spruchreif war, dass ich auch jetzt auch den Weg gehen will, da stand ein Jahr später die zweite Staatsprüfung an und ich dachte mir, also, du machst jetzt erstmal deine Prüfung, das hat jetzt keinen Sinn wenn ich mich da auch schon auf diesen gefühlsmäßigen sehr, (stöhnt, unterstreichende Handbewegung) bewegenden Weg einlasse, dis tut meiner Prüfung, meinen Prüfungsergebnis auch nicht gut, und deswegen habe ich mich mit diesen einem Jahr fünfundsieb- 74 auf 75, äh, ausschließlich um meine Staatsprüfung gekümmert. Und habe aber, nachdem die Klausuren für meine Staatsprüfung geschrieben waren, im Herbst 1975, da war es wirklich höchste Zeit. Ich bekam da also auch einen Zusammenbruch mit schweren Depressionen und Asthmaanfällen und Lähmungserscheinungen. Ich konnte kaum aus´m Bett aufstehen, äh, und auf´s Klo gehen, also, das war schon alles sehr happig. Ich bekam dann auch, äh, Masern und hatte fast 42 Grad Fieber, also-, da wollte der Arzt, dass ich mich auch in Krankenhaus, äh, tun, der Notarzt, aber ich habe ihm klar gemacht, dass ich da, äh, zugrunde gehe, wenn ich da in die Männerabteilung muss. Und da hat er bei mir dann auch die Medizin dagelassen und Freundinnen haben mir Essen gebracht. Also, äh, so das mir da, äh, der Krankenhausaufenthalt erspart blieb. Aber es war klar, dass ich dann also, 75 / ich hatte dann sechsund- / 76 auch mein offizielles, äh, coming out, dass ich anderen Menschen erzählt habe, dass ich eine Frau werden / werde und dass ich dann auch als Frau lesbisch leben werde. Ich habe mir auch vorgenommen, dass ich immer gleich bei- / es kommt immer beides auf den Tisch, ich mach das nicht, dass ich aus Angst nur eins, äh, sage.

Möglichkeiten der operativen Geschlechtsangleichung [10:01 min]

Frau Augstein: Ja, ich wollte halt, dass / Das war klar, ich habe mich weiblich empfunden und ich wollte, dass das Geschlecht in meinem Geburtseintrag auf weiblich lautet und natürlich braucht es dann auch noch weibliche Vornamen, ne. Äh, also, dass war ne Selbstverständlichkeit.

Ulrike Klöppel: Und,ähm, haben Sie aus den Medien auch darüber erfahren, das es überhaupt diese Möglichkeit gibt, eine Geschlechtstransition, oder nicht?

Frau Augstein: Da hatte ich ja mein Coming-out schon. Also da gab´s dann diese Sendung mit Gerda Hoffmann 1976, mit dieser Ärztin und da habe ich dann auch ne / in München eine andere Betroffene kennengelernt, die auch diesen Weg gehen wollte. Die sich auch schon medizinisch über die Einzelheiten informiert hatte, was alles geht, was man korrigieren kann. Und, äh, ich hab dann auch eine / in München eine andere kennengelernt, die 1972 sich auch in Singapur von diesem Professo-/Professor Rattmann(??), operieren ließ. Da hab ich mich schon über die Einzelheiten auch der Operation informiert.
[…]
Frau Augstein: Nein. Äh, äh, ich hatte meine Gefühle und wollte entsprechend diesen Gefühlen leben und habe halt, äh, und ich hatte ja dann eben auch diesen / dies wichtige Gespräch mit der Alexandra aus München und / wo ich mich dann informiert habe über die Operationstechniken und so weiter, die sind ja auch so was Entscheidendes. Und, ähm, und wo ich dann auch über die weiteren Möglichkeiten, äh, mich von der anderen Betroffenen informieren ließ, das man also / dass man den Bart im Gesicht durch Epilation wegbekommt, dass man Hormone nehmen kann, dass die Haut weiblicher und alles wird, und dass / dass ich auch Brustaufbau haben kann und das ich auch die unerwünschte Körperbehaarung mit Enthaarungscreme wegbekomme. Äh, diese weiteren Details waren ja auch nicht unwichtig.

Operationen in Deutschland oder im Ausland? [12:04 min]

Ulrike Klöppel: Ähm, dass Sie überhaupt ins Ausland gefahren sind für die Operation, das is / entspricht ja auch ungefähr dem, was man weiß, also, dass es also viele getan haben in der Zeit, dass sie also nach Casablanca

Frau Augstein: In Deutschland gabs noch kaum Möglichkeiten, außerdem hätt ich da schon die Erfahrung angezweifelt, und, ja, da möchte ich jetzt doch nochmal, also zu meinem großen Erstaunen hab ich feststellen müssen, nachträglich, dass viele Operateure / Operateure bei der Geschlechtsumwandlung Mann zu Frau keine Klitoris bilden, keine Neoklitoris. Wie soll dann die sexuelle Empfindungsfähigkeit erhalten bleiben und das / das ist auch in der / das hab ich jetzt gerade / ich les grad das, öh, das Lesbensexbuch von einer Amerikanerin, und die schildert das auch, dass in Amerika viele Operateure darauf verzichten. Das darf doch alles nicht wahr sein. Auch in Frankreich und in Deutschland, Professor Eichert, das ist doch alles nicht zu fassen! Und, m, und von daher hätt ich auch deutschen Operateuren nicht vertraut…. aber es war natürlich lange so, dass man, äh, das in jedem Fall privat bezahlen musste, und ich hatte ja auch überhaupt / was ich auch nicht wollte / wo ich froh war, dass ich das nicht brauchte, keinen Prozess der Begutachtung. Ich konnte einfach nach Singapur fahrn, das war ja nur dis eine Gespräch, da hab ich mich vorbereitet, das war / is wie ne Prüfung, ne, und, äh, das find ich auch sehr wichtig auch heute noch, heute kann man, würd ich immer sagen, Thailand, Professor (Sukron?) in, ja, also, ich finde es wichtig, dass auch heute Möglichkeiten gibt, dass ma einfach mit Geld wohin fahren und sich da operieren lassen kann, ohne diesen ganzen Prozess der Begutachtung, den ich, wie ich sagte, für Volljährige, für Volljährige nicht für nötig halte.

Unterstützung & Liebe im neuen Geschlecht [13:51 min – 15:08 min]

Frau Augstein: Also mei- / meine Frau hat sich in mich als Frau verliebt, und seitdem sind wir zusammen, seit dem 30. Julei 1978. Ich kann auch hier noch einfügen, dass auch ihre Eltern, mei- / also meine Schwiegereltern mich von Anfang als / als die Frau ihrer Tochter willkommen geheißen haben, auch in Kenntnis (unterstreichende Handbewegung), dass ich eine gewordene Frau bin. Das, äh, auch nochmal, also, ich hab da auch im Grunde die Selbstverständlichkeit erfahren, die eben meine beiden leiblichen Eltern vermissen ließen, also, nee, meine Frau hat von Anfang an, äh, das war ja auch das wichtige für mich, dass ich da die Bestätigung auch bekommen habe, auch grade nach der negativen Erfahrung, die / die ich erzählt habe, dass ich auch als Frau akzeptiert werde, auch geliebt werde, das wichtich, Liebe im neuen Geschlecht.Maria Augstein: Also ich muss sagen, ich bin ja /hm. Ich bin ein sehr kräftiger Mensch, und äh, im Grunde die Unterstützung meiner Frau war alles, was ich brauchte für das neue Leben, und hm, da hat ich eben auch die Bestätigung als Frau / dass ich als Frau geliebt werde, und, äh, dass ich als Frau Liebe geben kann, und alles andere hab ich auch letztlich alleine gemacht

Arbeitsaufträge

Aufgabe 1a:

Seht Euch das Video zwischen 03:03 Min und 15:08 Min zu Marias Jugend an. Sie spricht über die Entwicklung ihrer geschlechtlichen und sexuellen Identität. Dabei fallen Wörter wie:

  • lesbisch / L-Wort
  • heterosexuell
  • transsexuell / transgeschlechtlich
  • gewordene Frau
  • Coming-Out
  • Geschlechtsumwandlung/ Geschlechtstransition
  • Eingetragene Lebenspartnerschaft
  • (…)

Ergänzt die Liste um Wörter, die euch neu sind. Klärt gemeinsam die Bedeutung dieser Wörter.

Tipp: Im Glossar von Queerformat sind viele dieser Wörter erklärt.

Aufgabe 1b

Erzählt Euch gegenseitig die Lebensgeschichte von Maria, indem Ihr die Wörter aus 1a benutzt.

Tipp: Ihr könnt dazu die Begriffe mit Hilfe einer Mindmap auf einem Flipchart-Papier aufschreiben, sie verbinden und ordnen. Geht dabei von ihrem Namen aus, den Ihr in die Mitte des Papiers setzt.

Aufgabe 2

“Ich bin bi / schwul / trans / lesbisch…” – so etwas der eigenen Familie, dem Freundeskreis oder in der Schule dem eigenen Umfeld mitzuteilen, ist für viele Menschen ein wichtiger Schritt in ihrem Leben. Maria sagt über ihr doppeltes Coming-Out:

“Ja, sortiert hatte ich sie also allerspätestens 16, aber ich hatte mir, ich dachte mir, ich werde erst dann mich gegenüber anderen Menschen dazu äußern, wenn der Weg wirklich spruchreif ist, wenn ich sagen kann: „Jawohl, jetzt werde ich eine Frau“. Dann, vorher nicht. Sonst habe ich das schlechte aus beiden Welten, dass ich angefeindet werde und trotzdem nichts für meinen Weg tun kann.
[…]
Aber es war klar, dass ich dann also, 75, ich hatte dann 76 auch mein offizielles coming out, dass ich anderen Menschen erzählt habe, dass ich eine Frau werde und dass ich dann auch als Frau lesbisch leben werde. Ich habe mir auch vorgenommen, dass ich immer gleich … es kommt immer beides auf den Tisch, ich mach das nicht, dass ich aus Angst nur eins sage.”

Warum war ein Coming-Out für Maria wichtig? Überlegt Euch, warum sich viele Menschen erst sehr spät oder sogar überhaupt nicht trauen sich zu outen. Was kann an einem Coming-Out schwierig sein, was wird dadurch leichter? Und warum muss sich eigentlich niemand als heterosexuell outen?

Tipp: Überlegt dazu, was ein Outing in verschiedenen Lebensbereichen (Schule, Familie, Freundschaften, etc.) bedeutet.

Aufgabe 3

Maria erinnert sich:

“Man stelle sich das vor, ich hätte meiner Pflegefamilie mit dreizehn gesagt, „ich bin eigentlich ein lesbisches Mädchen“, also völlig undenkbar. Jetzt war auch die Zeit wo meine Mutter mich eigentlich ins Exil verbannen wollte, auf so ein englisches Eliteinternat, wo ich also jahrelang kein weibliches Wesen zu Gesicht bekommen hätte. Das wollte ich natürlich auf gar keinen Fall. Mir wurde später erzählt, ich hätte mit Selbstmord gedroht, wenn man das macht. Woran ich mich noch erinnere, dass meine Pflegemutter, Tante Anneliese, mir sagte, wenn das wirklich spruchreif werden sollte, dass ich da nach England muss, dann gibt sie mir 300 Mark mit und dann fahre ich mit dem Zug wieder nach Hannover.”

Stellt Euch vor, Tante Anneliese schreibt einen Brief an Marias Eltern, nachdem sich Maria geweigert hat nach England ins Internat zu gehen und lieber bei ihrer Pflegemutter leben möchte. Schreibt einen Brief an Maria. Denkt Euch aus, wie dieser Brief lauten könnte.

Tipp: Was würde sie wohl schreiben? Wie wäre es Maria gegangen, hätten ihre Eltern sie auf das englische Jungen-Internat geschickt?

Mögliche unklare Begriffe (Schlagt sie nach und erklärt sie Euch gegenseitig, falls nötig.)

  • Stantepede
  • Elite
  • Exil
  • Identität