Hintergrund

Die „Swing-Jugend“ im NS

Quellen/Material

Lauinger from Agentur Bildung on Vimeo.

Wolfgang Lauinger in der Swing-Jugend während des Nationalsozialismus

Und mein´m Vater gelang es dann, mich in einer Werkzeugmacherlehre unterzubringen in Frankfurt. Des heißt, ich habe den Beruf des Mechanikers, Werkzeugmachers gelernt. Das ging so lang gut, bis die Geschichte mit dem /der/ Pogromnacht kam, wo der Vater ins KZ kam und nach der Entlassung sofort auswandern musste.So wie in meiner Gestapo-Akte, die ich auch zu Hause habe, drin steht, ich habe verstoßen gegen (zählt auf) Glücksspiel, gegen die Wirtschaftsverordnungen, gegen die /den/ Besitz von kriegswichtigen Gütern, weil ich ein Stück Leder zu Haus gehabt hab für die Schuhsohlen, (äh) und dann am Schluss dran: es wird auch noch (äh)…, is auch noch homosexuell verdächtig. Des heißt, unter einem so (zeigt mit Fingern ca. 10 cm) zehn Zeilen Notiz der Verbrechen gegen den Staat wurde am Schluss in drei Buchstaben: er wurde auch noch homosexuell… Also weiter…, Nebensache! Keine Haupt… wichtige Sache. Es ging um die Staatsgefährdung, um die Antipathie des Herrn Lauinger gegen den Nazi-Staat und nicht um die Homosexualität. Des war nur eine Erkenntnis, die man aufgrund der Ermittlungen miterfahren hat. Ja, er muss auch schwul gewesen sein.Ich muss damit anfangen, dass ich versuche zu erklären (hustet), warum Musik ein staatsgefährdendes Symbol is. Es ist doch merkwürdig, dass ein kultivierter Staat, egal ob ´s Malerei is oder Musik, als wichtigen Punkt findet, dass der Staat in seiner Existenz gefährdet wird. Das ist doch schon ein völlig idiotischer Vorgang![…] Die Swing-Musik war…, wir hörten ja nur Marsch-Musik, (schlägt mit beiden Händen den Takt) bumm-bumm-bumm, bumm-bumm-bumm, bumm-bumm-bumm, so ging´s den ganzen Tag. Untermalt von klassischen Stücken, die mit ihrem Rhythmus…, so eine Art Kriegsstimmung. Wir hörten ja nur Marsch-Musik oder Volkslieder. Und des ging einem irgendwann auf die Nerven, weil es ja mit Gleichschritt zu tun hatte. Des heißt, wenn ich Marsch-Musik höre, muss ich im Gleichschritt gehen. Und des erzeugt ja schon automatisch Massenbewegung. Und so tauchte diese von Amerika kommende Swing-Musik… Harlem aus dem Duke Ellington, [ein Name nicht verständlich], Django Reinhardt, und all die wunderbaren Leute…, Benny Goodman…, die die Musik rübergebracht hab´n, das brachte einen Befreiungseffekt. Des heißt, mit dem Anhören dieser Musik entstand plötzlich ein völlig anderes Lebensgefühl. Des hat mit Politik gar nichts zu tun. Des is allein des Gefühlsmäßige. Und diese Musik verbreitete sich bei uns Jugendlichen, nicht nur in Frankfurt, aus, als Gegenpol gegen die vorgeschriebene Versklavung durch militärischen Gehorsam und durch Musik, Marsch-Musik und so weiter. So dass also die Musik eigentlich gar nichts Anstößiges war. Sie war nur ein Zeichen: ich denke anders und fühle anders. Und das erkannten die Goebbels´schen Leute, die ja doch verantwortlich waren für die Kulturschaffung angeblich, (äh) als ein staatsgefährdender Sache? Genau wie die sogenannte Entartete Kunst, nicht? Dadurch dass (äh) das Auge auf ein´m Bild ´n Zentimeter unter dem rechten Auge war, Beckmann oder irgendwann /irgendwer/, (äh) sagte man: das ist Entartete Kunst. Des heißt, es wich von der normalen Norm ab. Und so entwickelte sich in uns…, bei uns Jugendkreisen (äh) die… Was hatten wir sonst für Möglichkeiten, wir hatten die Möglichkeit, nach außen hin unsere Gegnerschaft [zu bekunden?]…, dass wir und anders kleideten. Das heißt, wir trugen keine Uniformen, sondern wir trugen einen eleganten Anzug, wenn wir uns das leisten konnten, setzten einen weißen Schal an, trugen einen [Wort nicht verständlich] Strohhut, (nimmt seinen Stock) nahmen einen Spazierstock. Das heißt, wir kleideten uns in der Öffentlichkeit so, dass wir einen Gegenpol gegen das übliche uniformierte Bild boten. Das war keine staatsgefährdende Einstellung, es war einfach unser Ausdruck der Gegnerschaft. Wir wollten ja keinen Staat stürzen, wir hatten ja keine Umsturzpläne! Wir hatten keine Pläne, die Regierung in die Luft zu sprengen! Sondern wir wollten nur leben wie wir ´s gern hätten. Und dazu war nötig, dass wir nicht so leben wie die Masse, sondern so leben, wie wir ´s gern hätten. Das war die Kleidung, das war die Musik, das war unsere gegenseitige (äh) Wanderschaft, was wir gemacht hab´n.

Verfolgung und Verrat

[…] „Wir war´n (zählt auf) entweder Kinder von jüdischen (äh) Abkömmlingen, oder wir war´n Kinder von sozialdemokratischen Familien, oder Kinder von Gewerkschaftlern, oder Kinder von katholischen Verbänden. (äh) Alles die Gegner, ideelle Gegner des Nationalsozialismus. Des heißt Gleichgesinnte. Ohne Absichten ernsthafter, wie sagt mer, (äh) Verbrechen. Und das gruppierte sich in diesem, von irgendjemand erfundenen Namen Harlem-Club. Der wurde zunächst von der Gestapo verboten. Aber des Verbot nützte scheinbar nix. Dann wurden von Jahr zu Jahr immer strengere Auflagen erteilt und so sind wir eben eines Tages in das (sucht nach Wort)…, in /den/ Fokus der Gestapo gekommen, die gesagt hab´n: jetzt müssen wer…, ich hab darüber Schreiben vom Heydrich und den Staatssicherheitsdiensten, die hab ich zu Hause liegen, die hab´n wir ja später gefunden, da steht noch ganz eindeutig drin: wir müssen etwas unternehmen. Diese Entwicklung können wir nicht dulden… Und der Himmler hat gesagt (macht horizontalen Strich) equi…, auslöschen! Keine Rücksichten! Nach KZ! Umbringen! Weil er wusste, dass das der Keim is für die mögliche Opposition, die entstehen könnte gegen ´s Hitlerregime.“[…] Lauinger: „Und dann hat die Gestapo einen jungen Mann reingeschleust, der sich mit einem unserer Mädchen eng angefreundet hatte, die aber nicht wusste, dass des ein Agent von der Gestapo is. Ein Herr Baldauf, Heinz Baldauf hieß er, und der hat nun durch seine Mitbesu… Und wenn jemand jemand mitbrachte, dann fragten wir nicht: wer ist das? Sondern dann sachten wir, wenn der den mitbringt oder die, dann ist das auch ein Gleichgesinnter. Das heißt, wir hatten keine Mitgliederverzeichnisse und keine (äh) üblichen vereinsmäßigen Akten, sondern wir hab´n den einfach akzeptiert, weil er eben mit der oder mit dem kam. Und wir wussten nicht, dass des ein eingeschleuster Ding war. Und wie der genuch Material zusammen hatte, über jeden einzelnen, hat er zugegriffen.““Wir hatten im Taunus, ´s is direkt bei Frankfurt…, Gebirge, eine Stätte, wo wir übernachten konnten /bei/ Bauern. Und da trafen wir uns zum Ski laufen. Und dieses Skilauf-Erlebnis war eigentlich ein Sport. Und (äh) da war´n Quartiere (äh) bei Bauern, in Bauernhöfen, nicht Gasthäuser, nicht, war ja kein Geld dazu /dafür/, die hab´n für ´n paar Mark uns Scheune oder was da eben war zur Übernachtung zur Verfügung gestellt. Und wir war´n so ´ne Gruppe von 10, 20 Menschen. Junge Menschen, die sich da regelmäßig, wenn Schnee lag, trafen. Und eines Tages hat, ´s is alles nur aus den Akten der Gestapo zu ersehen…, eines Tages hat also… (äh) Ich bin mit meinem damaligen Freund Franz Kremer, der auch im Buch erschien, erscheint, (äh) gekommen und da war ein Lager schon belegt. Das heißt, meine anderen Freunde und Freundinnen war´n da schon untergebracht. Und da sachte einer: komm, wir gehen zum Bauern (Pause) Meier, oder was weiß ich, der hat sicher noch Platz. Und da sachte einer, jetzt kommt das Entscheidende: (äh) nicht aus böser Absicht, nicht aus Feindschaft, sondern da sachte einer, der wusste, dass ich schw…, homosexuell bin, zu dem Franz: pass uff, dass der dich nicht ins Ohr beißt! (lacht) Aus Spaß! Wenn der mit dir schlä…, schlafen geht zum Nachbarn. Also ein reiner, untereinander, unter Freunden, die… (Pause) Und diese Aussage wurde von der Gestapo versucht… (sucht Worte)“Steinle: „…die wurde dann gegen Sie verwendet, quasi.“Lauinger: (nickt) „Und da wurde dieser arme Junge mit 16 Jahren drei Monate lang unter Folter eingesperrt und man hat versucht, ihn zu erpressen mit Prügel und Treten und Schlägen und…, halbtot geschlagen (äh) um ihn dazu zu bringen, zu sagen, dass ich mit ihm irgendein intimes Verhältnis gehabt hätte. Was gar nicht war! Nh? `s war überhaupt nicht, es war ´n Freund von mir wie viele andere! Aber sie /er/ war der Jüngste und des war des Opfer der Gestapo, die dachten, er is am ehesten… (macht mit beiden Händen schraubartige Bewegungen) is der zu (äh) zwingen, dass er solche [zwei Worte unverständlich]. Und (äh) das is also schief gegongen.“

Arbeitsaufträge

Aufgabe 1a

Am 30. Januar 1933 ernannte der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Die durch diese Machtübertragung an die Regierung gekommene Partei Hitlers, die NSDAP, nutzte sofort die neue Situation, um ihre Gegner noch brutaler zu verfolgen, einzusperren und vielfach zu ermorden. Gemeinsam mit ihren Anhängerinnen und Anhängern machten sie aus der parlamentarischen Demokratie eine Diktatur und aus der vielfältigen Gesellschaft eine nationalsozialistische “Volksgemeinschaft”.

Seht Euch das Video (C2.1) an. Findet heraus wie sich Wolfgang und seine Freund_innen demgegenüber verhielten. Wie drückten sie ihre Haltung aus?

Aufgabe 1b

In den 1930er Jahren sollte die deutsche Gesellschaft auf den bevorstehenden Krieg vorbereitet werden. Ein wichtiges Mittel dazu war die Marschmusik. Moderne, atonale Musik, sowie Jazz, wurden verboten. Die Nazis bezeichneten sie als “entartet”. Dazu zählte auch die Swing-Musik, die Wolfgang und seine Freund_innen hörten. Wolfgang sagt: “Des hat mit Politik gar nichts zu tun.” Erörtert, was es über den NS-Staat und seine Anhänger_innen aussagt, dass solche Musik trotzdem nicht geduldet werden konnte.

Tipp: Ihr könnt Euch mit den folgenden zwei Beispielen einen besseren Eindruck davon machen. Hört Euch die zwei Stücke an und vergleicht Euren persönlichen Eindruck. Welche Gefühle und Bilder lösen die Lieder bei Euch aus?

1. “Wenn Wir marschieren”, deutsches Soldatenlied von ca. 1910, unbekannter Komponist

2. “Take the A-train” (1943) von Duke Ellington

Aufgabe 2

Wolfgang wurde von den Nazis verfolgt. Seht Euch zu diesem Thema das nächste Video (C2.2) an. Sammelt die Eigenschaften und die Aspekte seiner Jugend, die ab 1933 zu einer Gefahr für ihn wurden.

Tipp: Für ein besseres Verständnis könnt Ihr das beiliegende Schaubild verwenden: Tragt darin ein, welche Gruppen im NS verfolgt wurden. Welchen gehörte Wolfgang an?

Aufgabe 3

Der NS-Staat hat private Informationen über Wolfgang gesammelt: Über seine Herkunft, die Herkunft seiner Eltern, über seine Sexualität und seine Freizeitaktivitäten. Die Informationen wurden erfasst und bewertet mit dem Ziel ihn zu verfolgen. Laut Wolfgang waren diese Dinge in seinem Leben vor dem Nationalsozialismus weder eindeutig, noch haben sie eine große Rolle gespielt. Klärt warum diese Dinge für den Staat so wichtig werden. Überlegt Euch auch, welche Wirkung das auf Wolfgang selbst gehabt haben mag.

Mögliche unklare Begriffe (Erklärt sie Euch gegenseitig oder schlagt sie nach, falls nötig.)

  • Antipathie
  • einschleusen
  • entartet, entartete Kunst
  • Gestapo
  • Harlem (Swing)
  • intim
  • kultiviert
  • Pogromnacht (Novemberpogrome)
  • Taunus
  • Quartier

Namen, die genannt werden

  • Joseph Goebbels
  • Reinhard Heydrich
  • Heinrich Himmler
  • Heinz Baldauf
  • Franz Kremer

Namen von Musikern

Duke Ellington
Benny Goodman
Django Reinhardt