Hintergrund

Wolfgang Lauingers Kindheit und Jugend in Frankfurt

Quelle/Material

Lauinger from Agentur Bildung on Vimeo.

Wolfgangs Kindheit in Frankfurt am Main

Berichten Sie doch bitte aus Ihrer Kindheit und Jugend, wie war die?Lauinger: „Ja, das es ja sehr lang zurückliegt, hab ich natürlich kaum mehr Erinnerungsinformationen. Ich bin also in Zürich geboren, und zwar zwei Monate vor dem Ende des I. Weltkrieges. Der Weltkrieg war im November zu Ende, ich bin im September geboren. Durch Zufall in Zürich, weil mein Vater als Wirtschaftsjournalist von der Front abberufen wurde am Ende des Krieges, und nach Zürich an die Botschaft versetzt.Ich ging in die Volksschule in Bockenheim, in Frankfurt, und (äh) (hustet), 1923, also fünf Jahre später, hat sich mein Vater von der Mutter scheiden lassen. Nicht aus (äh) wichtigen Gründen, sie hab´n sich auseinander gelebt. Mein Vater war zehn Jahr älter als die Mutter. Die Mutter war Künstlerin, Pianistin und Sängerin, und mein Vater war eben Journalist. Und so hat sich das irgendwo entfremdet und die sind ohne Probleme in Scheidung gegangen und ich bin mit mein´m Bruder in der Fürsorge des Vaters geblieben.Ich weiß nur, dass mir als Kind, ich war ja fünf Jahre alt, ziemlich viel Freiheit genossen habe. Des hat ja scheinbar später auf meine Entwicklung ausgeübt, nicht? Ich war nicht mehr in mütterlicher Obhut, der Vater war sowieso nie da, ich wurde also nur von Kindermädchen erzogen. Und das war natürlich kein Ersatz für die Mutter, aber so entwickelte ich mich doch scheinbar ziemlich (sucht Wort) eigen. Ohne dass ich in bestimmte Richtung (sucht Wort) befördert wurde wie´s meistens bei Kindern üblich is. Des sind also meine Erinnerungen an die früheste Jugend. Und so bin ich also einigermaßen (Pause) gut zurechtgekommen mit der Erziehung des Kindermädchens, die auch dauernd wechselten… Und das is also so lang geschehen, bis ich 15 Jahr alt war und dann kam der Umsturz, 1933, und da begann schon das Problem der jüdischen Abstammung in der Schule. Und das führte dazu, dass meine Leistungen angeblich immer schlechter wurden und ich musste in eine Realschule versetzt werden in Frankfurt. Das ging aber auch nur ein, zwei Jahre gut, dann kam die Verschärfung der Gesetze.“

Sexualität, Liebe & Freundschaft in Wolfgangs Jugend

„Ja, natürlich hatte ich Freundschaften! Ich hatte in der Schule sehr… viele Freunde, in der Klasse. Trotz dem Wechsel in andere Schulen hab ich immer schnell wieder Verbindung aufge… Es gab eigentlich kein Problem jüdisch, Homosexuelle, katholisch. Ich hatte immer das Gefühl, man war genau…, unter den Kameraden gleichberechtigt. Ich hab auch nie diese Konfrontation gehabt mit irgendwelchen Menschen meiner Altersgruppe aufgrund der Religion oder der Veranlagung. Des war also, wie sacht mer denn, für mich kein Problem.“Wann hatten Sie dann Ihre erste Beziehung, die Sie bewusst homosexuell gelebt haben?Lauinger (atmet aus): „Ja. (Pause) Ich würde sagen, es wurde Gewohnheit. Ich würde sagen, wenn ich zurückdenke… (äh) Eine eindeutige Orientierung war nicht zu erkennen. Ich erinner mich noch ganz gut, dass ich (äh) ein Mädchen kennen lernte, die war damals auch 13, 12 oder 14 Jahr alt, und die hatte aber einen Freund. Es gab ja da auch schon menschliche Bindungen zwischen Jungs und Mädchen, auch im Alter von 13, 14 Jahren. Und ich wollte eigentlich mir der enger zusammen, aber der Freund stand im Wege.Damals wurden Kinder verheiratet, die suchten sich nicht selbst den Partner, sondern die wurden… Der Vater war Bäckermeister, also musste die Tochter einen Bäcker heiraten, damit das Geschäft sich vergrößert. Der Bankierssohn musste eine Tochter heiraten, wo auch ´n Bankfach war. Des heißt, die Eltern bestimmten eigentlich mehr oder weniger, in den sogenannten besseren Kreisen, wer wen heiratet. Des heißt, ich wäre zwangsläufig in diese, wie sagt mer denn, Familienzucht reingeraten. Und das hätte natürlich für mich katastrophale… Ding gehabt. Ich erinner mich noch sehr deutlich an die Gepflogenheiten: der Sohn hatte, er war 20, eine Geliebte, die passte aber den Eltern nicht. Sondern die hatten bestimmt, dass die Tochter von irgendeinem Bekannten ihn heiraten /soll/. Daraufhin gab ´s natürlich Streit, der wuchs so aus, dass der Sohn vor die Wahl gestellt wurde: entweder du heiratest die oder du wirst enterbt. Ich will jetzt mal ganz übertrieben sagen…, die Folge war, dass er wahrscheinlich gedacht hat: eh ich auf das Vermögen verzichte, nehm ich den Ding, heirate und behalt meine Geliebte. Des heißt, des war die zweite Lösung. Die wenigsten hatten den Mut zu sagen, ok, dann will ich nicht mit dir zu tun haben und is ausgeschieden. Aber (äh) die Chance, unabhängig von der Gewalt der Eltern eine Familie zu gründen, war relativ gering. Die war relativ gering.Wenn ich einen Menschen kennen lernte, der mir gefiel, aus Gründen, die man nicht… Gefühlsmäßig war ´s für mich völlig gleichgültig, ob er homosexuell war oder nicht. Sondern im Wesentlichen war ´s der Mensch. Und wenn es zu keiner homosexuellen Beziehung kam, war ´s auch gut. Aber sie war keine Bedingung. Und des hat mich eigentlich immer, wie sacht mer denn, es ist immer gut gelaufen.Deswegen ist auch in der heutigen Überlegung immer wieder die Frage Homosexualität als Lebensbasis. Es war keine Lebensbasis, es war einfach ein Teil unserer Jugend. (Pause) Da war nichts Besonderes drinAlso diese Be…, Einstellung (äh) der Gegnerschaft entstand erst durch die Hitler-Zeit. Nach meiner Erinnerung.Wenn ich wieder auf die Welt komm, möchte ich auch wieder schwul sein. Ich bin der…, ich kann des nicht versteh´n, dass Menschen (äh) egal, welcher Generation sich nicht zufrieden sin mit ihrer (äh) sexuellen Veranlagung. Dass sie meinen, es wär da…, es wär falsch! Das is doch…, das is doch (äh)…, ich weiß nicht, wie ich des erklär´n soll. Es is (äh)…, und ich bin ziemlich sicher, dass die Großteil der Homosexuellen auch heute noch darunter leiden, dass sie homosexuell sind. (Pause) Stimmt das? Kann des stimmen?“

Arbeitsaufträge

Aufgabe 1

Seht Euch die ersten zwei Videos (C1.1 & C1.2) an, in denen Wolfgang über seine Kindheit und Jugend spricht. Tragt anschließend zusammen, was Wolfgang über die Rolle seiner Sexualität berichtet.

Tipp: Ihr könnt Euch die wichtigsten Punkte aufschreiben und z.B. farblich markieren, was Euch am Interview überrascht hat. Vergleicht das mit den anderen!

Aufgabe 2a

Zum Zeitpunkt der Machtübergabe an die Nationalsozialisten war Wolfgang 15 Jahre alt. Denkt Euch gemeinsam aus, wie sein Leben vermutlich weiter verlaufen ist. Überlegt Euch dazu, welche Zeiten er alles erlebt hat und wie es ihm dabei ergangen sein könnte.

Tipp: Um einen besseren Überblick zu haben, könnt Ihr auf ein langes Flipchartpapier einen Zeitstrahl von seiner Geburt (1918) bis heute malen. Darauf könntet Ihr wichtige Ereignisse einzeichnen und festhalten (z.B. mit einer zweiten Linie), wie es Wolfgang jeweils erging.

Aufgabe 2b

Wolfgang hat auch darüber gesprochen, dass es damals für Jugendliche schwierig war, “unabhängig von der Gewalt der Eltern eine Familie zu gründen”. Welche Erwartungen gibt es in Eurer Familie heute hinsichtlich Eurer Freundschaften, Beziehungen, Heirat, Sexualität usw.? Was glaubt Ihr hat sich im Vergleich zu damals vor allem geändert? Was gar nicht?

Tipp: Setzt Euch dazu am besten zu zweit zusammen und sammelt Beispiele.

Aufgabe 3

Am Ende fragt Wolfgang nach der Situation von homosexuellen Menschen heute. Antwortet ihm mit einem Brief. Beschreibt darin auch, welchen Probleme schwul, lesbisch oder bisexuell lebende Menschen sich heute ausgesetzt sehen.

Tipp: Tauscht Euch über Eure Briefe aus – es muss aber niemand zeigen, was sie_er aufgeschrieben hat!

Mögliche unklare Begriffe (Erklärt sie Euch gegenseitig oder schlagt sie nach, falls nötig.)

  • enterben
  • Gepflogenheiten
  • politisieren
  • Gewalt durch Eltern