“…ich glaube, ich bin so, ich glaube, das will ich…”

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Abstract

Harm-Peter Dietrich wurde 1936 in einer Kreisstadt 12 Kilometer von Köln entfernt geboren. Sein Vater war Arzt seine Mutter Apothekerin, und die Familie war in der Kleinstadt recht bekannt. Seine Kindheit war angenehm und glücklich, weil seine Eltern aus großbürgerlichen Verhältnissen stammten. Er wurde stark protestantisch erzogen, weil die Familie im katholischen Köln gewissermaßen in der Diaspora lebte. Die Religion war nach dem Krieg ein wichtiger Orientierungspunkt. Im Laufe seines Lebens hat er sich von der Kirche distanziert.

Sachanalyse

“Vielleicht kann ich bei dieser Gelegenheit folgendes anmerken, was ich sehr, sehr lange mit mir durchs Leben geschleppt habe (Pause). Ich habe bei mir selber und ich habe auch bei Schwulen Eigenschaften kennen gelernt, mit denen sich Schwule zum Teil wirklich profilieren können. Und ich hatte diese sehr negative Attitude, zu sagen, das kann ich nur, das kann der nur, weil er schwul ist. Das heißt, ich habe zu der Zeit noch meine eigene Schwulität abgewertet. Das heißt, ich habe meine Schwulität und die Schwulität bei anderen Menschen zu der Zeit noch als ein Manko empfunden. Obwohl ich nicht, obwohl ich keine Möglichkeit sah, mich selber davon zu lösen, habe ich das dann doch als ein Mangel empfunden, als ein Defekt. (Pause) Auf der anderen Seite habe ich, ich hab´ sehr viel darüber nachgedacht, da hab´ ich eine Haltung gefunden, die sich bei mir schon sehr, sehr früh eingestellt hat. Als ich mir über die Unausweichlichkeit dieser Situation (schmunzelt), hört sich ja ein bisschen dramatisch an, aber letztlich doch, dass das so eine Einbahnstraße war. Da war eine gewisse Trotzreaktion, da hab ich gesagt: ich glaube, ich bin so, ich glaube, das will ich, ich glaube, das gehört zu meiner Persönlichkeit. Und wenn die Gesellschaft mich das so nicht akzeptieren kann, ich werde mich nicht ändern können, ich werde mich nicht ändern wollen. Das war mir irgendwo ganz klar. Ich werde mich nicht anpassen. Und wenn die Gesellschaft das überhaupt nicht toleriert, ich muss sogar sagen, dann hab ich gedacht, naja, dann gehe ich halt irgendwo unter, dann ist es ebenso. Aber (Pause) ich habe sehr früh das Gefühl entwickelt, es führe kein Weg daran vorbei, das bin ich, ich will gar nicht anders sein. Und heute muss ich sagen, dass mir das, glaube ich, in vieler Hinsicht sehr geholfen hat. Sehr früh dieses Bewusstsein zu entwickeln. (Pause)”

Biographische Zusammenfassung    

Harm-Peter Dietrich wurde 1936 in einer Kreisstadt 12 Kilometer von Köln entfernt geboren. Sein Vater war Arzt seine Mutter Apothekerin, und die Familie war in der Kleinstadt recht bekannt. Seine Kindheit war angenehm und glücklich, weil seine Eltern aus großbürgerlichen Verhältnissen stammten. Er wurde stark protestantisch erzogen, weil die Familie im katholischen Köln gewissermaßen in der Diaspora lebte. Die Religion war nach dem Krieg ein wichtiger Orientierungspunkt. Im Laufe seines Lebens hat er sich von der Kirche distanziert.

In den Jahren 1943 und ´44 verbrachten die Menschen wegen der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg viel Zeit in den Bunkern, sogar der Unterricht fand teilweise dort statt. Die Schüler übernachteten im Bunker und hätten sie sich dabei „gegenseitig entdeckt“. Herr Dietrich merkte, dass er Jungs attraktiv fand. Die letzten anderthalb Kriegsjahre verbrachte er aus Sicherheitsgründen in Niedersachsen.

Die Schulzeit hat Herr Dietrich in guter Erinnerung, auch wenn er von Prügelstrafen berichtet. Wegen der schwierigen Ernährungslage wurde Herr Dietrich zwischenzeitlich noch einmal in Niedersachsen untergebracht, wo er mit etwa neun oder zehn Jahren das erste sexuelle Erlebnis mit einem jungen ehemaligen Soldaten hatte, der die Kinder unterrichtete. Während der Schulzeit war er immer für irgendeinen Jungen entflammt gewesen. Herr Dietrich wollte Bühnenbildner werden und weil sein Vater davon begeistert war, schickte er ihn im Alter von 14 Jahren auf eine Werkschule in Köln. Er lernte die Klappen kennen und hoffte, dort Gleichaltrige zu treffen.

Nach dem Abitur, Mitte der 50iger Jahre, begann er ein Medizinstudium. Der Studienbeginn und seine spätere ärztliche Tätigkeit bewahrten Herrn Dietrich vor der Wehrpflicht. Herr Dietrich schämte sich seiner Homosexualität und nahm sich vor, gewissermaßen als Ausgleich und als Schutz vor Diffamierungen in anderen Bereichen seines Lebens besonders gute Leistungen zu zeigen. In der Studienstadt Tübingen konnte er seine Sexualität nicht so entfalten, wie er das gerne getan hätte. 1958 machte Herr Dietrich das Physikum und ging für zwei Semester nach München.

In München bewegte sich Herr Dietrich in der sehr lebhaften schwulen Szene; einerseits an den Ufern der Isar, andererseits in zwei schwulen Lokalen, in die man sich damals hineingeschlichen habe.vi Seinen Studium schloss er in Göttingen ab, weil die Universität einen sehr guten Ruf genoss.

Nach dem Studienabschluss arbeitete Herr Dietrich als Medizinalassistent. Wegen des Ärztemangels wurde er direkt als Stationsarzt in einem Krankenhaus in der Nähe von Hannover eingestellt. Anfang der 1960er Jahre promovierte Herr Dietrich und erhielt seine Approbation. Als schwuler Mann entschied er sich anstatt eine eigene Praxis zu eröffnen, Klinikarzt (Anästhesist) zu werden. Somit war die Gefahr eines gesellschaftlichen Ausschlusses geringer, falls sein Schwulsein bekannt werden sollte. Für die Ausbildung zum Anästhesisten ging Herr Dietrich zurück nach München. Ende der 1960er Jahre erhielt Herr Dietrich die Anerkennung als Facharzt der Anästhesie und Intensivmedizin. Seine Bewerbung um die Stelle als Chefarzt war dermaßen mit Kompetenzgerangel verbunden, dass er sich Anfang der 1970er entschied, in die USA zu gehen. 1972 reiste er nach New York, wo er schwule Freunde kannte. Anschließend fuhr er sechs Wochen alleine durch die USA bis zu seinem Ziel San Francisco. Die Jahre in San Francisco bezeichnet er als die schönsten seines Lebens. Er arbeitete viel im Rahmen eines Forschungsprojekts; in der Freizeit unternahm er Ausflüge mit seinem Partner, mit dem er im Castro-District zusammenwohnte. Nach vier Jahren musste Herr Dietrich aufgrund von Aufenthaltsbestimmungen nach Deutschland zurückkehren.

Wieder in München war er am Aufbau einer Intensivstation beteiligt, die er anschließend leitete. Damals stand die Intensivmedizin am Anfang und Herr Dietrich war für die Schulung des Pflegepersonals mitverantwortlich. Die profiliertesten Krankenpfleger seien schwul gewesen, betont Herr Dietrich. Während seiner Münchner Zeit hatte Herr Dietrich einen langjährigen Partner. Seine Homosexualität sei auf der Station weitgehend bekannt gewesen, und nur einmal Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre sei es deshalb zu einer problematischen Situation gekommen.

Gegenüber dem Eigentümer des Hauses, in dem Herr Dietrich eine Wohnung hatte, musste er sich Anfang der 1980er Jahre und, wie er sagt, trotz der Tatsache, dass der § 175 bereits reformiert worden war, für seinen „Herrenbesuch“ rechtfertigen. Später habe er sogar eine Kündigung erhalten, in der unter anderem sein „Umgang mit Personen männlichen Geschlechts“ beanstandet wurde, der zu erheblicher Unruhe im Haus geführt habe. Auf Intervention seines Anwalts konnte Herr Dietrich zwar dort wohnen bleiben. Zwei Jahre später zog er jedoch aus, weil er es nicht mehr ausgehalten habe.

Zu Beginn der 1980er Jahre entschied sich Herr Dietrich gegen eine Habilitation und für einen Job in der Pharmaindustrie in Frankfurt. Fortan war er international tätig, weshalb es wichtig gewesen wäre, dass er „unabhängig“ war.

Die „Aids-Katastrophe“ habe in seinem Leben große Spuren hinterlassen; von seinen Freunden in den USA habe bis auf einen niemand überlebt. In Deutschland gibt es nur zwei Freunde, die er noch aus den späten 1960er Jahren kennt, die es bis zur Einführung von Replikatoren-Hemmern geschafft hatten, zu überleben.

Heute lebt Herr Dietrich in Berlin. Wann und unter welchen Umständen er in die Stadt kam, ist nicht bekannt.

Glossar

Für die häufigsten Begriffe zum Thema dieses Moduls bitten wir auf das “Glossar zum Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt im Kontext von Antidiskriminierung und Pädagogik” von QUEERFORMAT, der Fachstelle queere Bildung zurückzugreifen.

Baustein Biografiearbeit

“…ein stadtbekannter Arzt kann ich nicht werden. […] wenn das bekannt wird, ist es aus.”

Homosexualität und Beruf

Baustein Biografiearbeit

„Mann konnte auch gar nicht davon träumen. „Man konnte auch gar nicht davon träumen, dass sich das irgendwann einmal ändern wird.“

Harm-Peters Jugend im Schatten des Nationalsozialismus

Baustein Biografiearbeit

„…weil das notwendig war um unerkannt zu bleiben…“

Schwule Szene und Lieben in der Illegalität

Baustein Biografiearbeit

„Eigentlich die schönste Zeit meines Lebens, muss ich sagen.“

Aufbruch nach Kalifornien und Emanzipationsbewegungen in den USA

Baustein Biografiearbeit

„“Und das hat in dieser Hinsicht auch in mein Leben eingeschlagen…”

Verluste, AIDS & gesellschaftliche Ausgrenzung